: Für eine Hand voll Dinar
aus Bagdad KARIM EL-GAWHARY
„Einen wunderbaren Anfang“ hatte Donald Rumsfeld dem Irak diesen Monat bei einer Kurzvisite des Landes bescheinigt. Anders als der dem positiven Neubeginn huldigende US-Verteidigungsminister ist der Iraker Hadsch Nadschi ein Mann, der sich schon von Berufs wegen eher mit dem Ende beschäftigt. Er ist Totengräber in Wadi Salam – zu Deutsch Friedenstal –, dem größten Friedhof des Landes. Dieser Tage macht er zahlreiche Überstunden. Sein Reich des Todes ist derzeit um 20 Prozent mehr ausgelastet als in der Vorkriegszeit. Und auch seine leblose Kundschaft hat sich verändert, verriet er unlängst einer irakischen Tageszeitung. Waren zuvor die meisten aufgrund von Krankheiten oder eines natürlichen Todes gestorben, bekommt er heute in den Leichentüchern mehr und mehr junge Männer geliefert, die ihren Schusswunden erlegen sind.
Es gibt im irakischen Chaos keine Kriminalitätsstatistik, nur Erfahrungswerte. Und die besagen, dass Totengräber Hadsch Nadschi zur heißen Mittagszeit besser eine Arbeitspause einlegt. Denn das ist die bevorzugte Zeit, zu der Räuber und Diebe zwischen den Gräbern den Trauernden auflauern.
Nicht nur für die US-Soldaten, auch für die Iraker hat sich das Land seit Beginn der Besatzung in einen Sicherheitsalbtraum verwandelt. Der schnelle Dinar – oder bevorzugt Dollar – ist derzeit vor allem mit Entführungen und Autoraub zu machen. Jeder kennt Geschichten aus der eigenen Nachbarschaft, die immer ähnlich beginnen. Ein Auto fährt vor. Ein Kind oder ein Erwachsener wird hineingezogen und wenige Stunden später bekommt die Familie die Lösegeldforderung – je nach sozialem Status bis zu mehreren 10.000 Dollar. Die US-Armee ist zu sehr mit ihrem eigenen Schutz beschäftigt und schickt die hilfesuchenden Iraker zur Polizei. Die wiederum ist hoffnungslos überfordert. Manche munkeln gar, sie stecke mit den Kriminellen unter einer Decke. Der Rat der Polizei ist meist der gleiche: Verhandle direkt mit den Entführern über das Lösegeld und bezahle! Manche der betroffenen Familien verkaufen ihr Haus und ihre Möbel und leihen sich noch zusätzlich Geld, um die Lösegelder aufbringen zu können.
Kein Wunder, dass Selbst- und Nachbarschaftshilfe in Bagdad ganz hoch im Kurs stehen. Als zwei Blocks vom Haus eines Bagdader Bekannten entfernt ein achtjähriger Junge in einen Kleinlaster gezogen wurde, kamen die Nachbarn sofort mit ihren Kalaschnikows aus dem Haus gelaufen und eröffneten das Feuer. Einer der Entführer wurde angeschossen, fiel vom Auto und wurde von der Familie des Kindes gefangen genommen. Er wurde ins Haus gebracht und gefoltert, um den Aufenthaltsort des Kindes preiszugeben. Auf die Idee, staatliche Hilfe anzufordern, zur Polizei zu gehen, kam niemand.
Ein paar Straßen weiter versuchten kurz darauf Unbekannte den zehnjährigen Aschraf von seinem Fahrrad zu ziehen. Der Junge hatte Glück. Die anderen Kinder, die auf der Straße spielten, begannen zu schreien, die Nachbarn kamen mit ihren Kalaschnikows angelaufen. Aber was Aschraf wirklich vor einer Odyssee bewahrt hatte, war sein Übergewicht. Die Kidnapper schafften es nicht, ihn vom Fahrrad zu ziehen, und ergriffen angesichts der schwer bewaffneten Nachbarschaft die Flucht.
Manchmal hat aber auch das Opfer Pech. Nicht weit entfernt vom Haus eines Bekannten befindet sich die Al-Sattar-Boutique. Wie jeden Tag stand der BMW des Besitzers vor dem Laden, als eine Gruppe Bewaffneter das Auto aufbrach und davonfuhr. Der Besitzer holte sein Schnellfeuergewehr unter dem Ladentisch hervor und begann den davonrasenden Autodieben hinterherzuschießen, als eine amerikanische Militärpatrouille zufällig des Weges kam, das Feuer eröffnete und den Laden- und eigentlichen Autobesitzer erschoss.
Es ist kein Geheimnis, dass die Bezirke Bagdads von gut organisierten Banden unter sich aufgeteilt wurden. Letztes Wochenende machte sich ein Bekannter bereit, um in den Osten der Stadt zu dem stadtbekannten Scheich Obeid zu fahren. Wie inzwischen üblich, wollte er mit dem Mafiachef aushandeln, für welche Summe er das gestohlene Auto seiner Schwägerin wieder zurückkaufen kann. Doch dann machte deren Ehemann einen Rückzieher und ging stattdessen zur Polizei. Der Kommentar meines Bekannten: „Das Auto kannst du total vergessen.“
Es dürfte den üblichen Weg gehen. Meist kaufen kurdische Zwischenhändler die gestohlenen Fahrzeuge in Battawyin, einem Bezirk im Zentrum Bagdads, und schmuggeln sie über den Norden über die iranische Grenze. Das dürfte jetzt noch einfacher werden. Am Wochenende wurde dieser Teil der irakisch-iranischen Grenze von den amerikanischen Streitkräften an eine irakische Grenztruppe übergeben, die hauptsächlich aus Peschmerga, aus kurdischen Kämpfern, besteht. Die neueren Autos in besserem Zustand bleiben dann im Iran, ältere Kisten werden von dort weiter nach Afghanistan verschoben.
Auch wenn Bagdads Polizeichef General Hassan Ali in der Presse gern darüber redet, dass seine Polizei gut in Form sei und es ihr immer besser gelinge, in Kooperation mit den „Koalitionsstreitkräften“ für Sicherheit zu sorgen – jeder in Bagdad weiß, dass in Wirklichkeit im Moment niemand den Banden Einhalt gebieten kann. Die haben ein schier unerschöpfliches Rekrutierungsreservoir, nachdem Saddam Hussein wenige Monate vor dem Krieg in einer Generalamnestie die Gefängnisse nicht nur von politischen Gefangenen, sondern auch von Kriminellen jeder Art räumen ließ. Hinzu kommt, dass die aus den Armenvierteln rekrutierten ehemaligen Kämpfer der Elitetruppe Fedajin Saddam heute ihre Loyalität und ihre gute militärische Ausbildung statt an den Diktator an die Mafiabosse verkaufen. Und dann sind da noch einige Stämme in den Außenbezirken Bagdads, die sich traditionell ihr Zubrot mit dem ein oder anderen krummen Geschäft verdienen.
Manchmal treibt das kriminelle Chaos unter amerikanischer Schirmherrschaft auch seltsame, bizarre Blüten. Abu Hassan war in seinem Minibus mit seiner in den Wehen liegenden Frau gerade auf dem Weg zum Bagdader Al-Alwiya-Krankenhaus, als er von fünf Bewaffneten angehalten wurde. Die forderten das Paar zum Aussteigen auf, um das Auto mitzunehmen. Der besorgte werdende Vater bot die zweihundert Dollar, die er mit sich führte, um weiterfahren zu dürfen. Nach einer Viertelstunde zäher Verhandlungen, unterbrochen von den Wehen der Frau, wurde man sich schließlich handelseinig. Bevor sie das Auto mitnahmen, fuhren die Räuber das Paar noch freundlicherweise beim Krankenhaus vorbei.
Ob die Räuber einen Führerschein besitzen, ist dabei fraglich. Immerhin haben die irakischen Behören am Sonntag wieder begonnen, neue Lizenzen auszustellen. Und auch da zeigt sich, wie schwer es ist, staatliche irakische Institutionen zu schaffen, die Ordnung und Gesetz durchsetzen können. Denn die Angelegenheit mit den neuen Führerscheinen zieht sich, und der dort kämpfende Leutnant Sadoun al-Dschuburi erklärt in der irakischen Presse, warum: „Wir versuchen unser Bestes! Obwohl wir nur einen einzigen Schreibtisch zum Schreiben haben und viele der Beamten auf dem Boden liegen, um die Formulare ausfüllen zu können“, rechtfertigt er die langen Schlangen vor seinem spartanisch eingerichteten Büro. „Aufgrund der gesetzlosen Atmosphäre haben die Iraker einen ziemlich laxen Umgang mit den Verkehrsgesetzen“, beschwert sich der Chef des Verkehrsamtes, Hauptmann Hussein Khalaf Asch-Schaqawi. Hinzu käme, dass keiner mehr die Verkehrspolizisten ernst nähme, wenn die Leute mitansähen, wie Polizisten an den amerikanischen Straßensperren angehalten würden, „Kein Wunder“, sagt Asch-Schaqawi, „dass die Leute auf die Polizei herabsehen.“
Doch es sind nicht nur gewöhnliche Gewaltverbrechen, denen die Iraker zum Opfer fallen. Angst haben sie auch, bei den zahlreichen Angriffen auf das US-Militär aus Versehen in – wie ein Bagdader witzelt – „freundlichem Feuer“ umzukommen. Inzwischen hat es sich eingebürgert, zu jeder Art von amerikanischem Militärfahrzeug einen respektvollen Abstand zu halten. Immer wieder kommt es vor, dass US-Fahrzeuge an Sprengsätzen vorbeifahren und stattdessen das nachfolgende Privatfahrzeug in die Luft fliegt. So ist es erst letzte Woche wieder in Bagdad geschehen, als ein einem gepanzerten Militärfahrzeug folgender Minibus die Wucht des Sprengsatzes abbekam und der Fahrer des Fahrzeuges getötet wurde.
Manchmal feuern die im Namen des Widerstandes gegen die Besatzung operierenden Iraker auch einfach daneben. Einen halben Kilometer vom Haus eines Bekannten entfernt befindet sich ein Gebäude, in dem US-Soldaten stationiert sind. Statt des Hauses wurde vor zwei Wochen ein benachbartes Café von einer Granate getroffen und 20 Iraker verletzt. Anschließend ließen die Täter dem Imam der lokalen Moschee ein Entschuldigungsschreiben zukommen. Zur allgemeinen Be(un)ruhigung der Nachbarschaft hieß es darin: „Es tut uns aufrichtig Leid, dass wir daneben geschossen und Unschuldige verletzt haben. Aber wir versichern allen, dass wir es noch einmal versuchen werden.“