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Archiv-Artikel

Sag zum Abschied ganz laut „Schlange“

Ein Besucheransturm und seine Deutungen: Am 19. September geht die Ausstellung des Museum of Modern Art in Berlin mit einem phänomenalen Besucherrekord zu Ende. Womöglich triumphiert in diesem Erfolg sogar die Kunstgeschichte über die üblichen Mechanismen des Marketings

Wenigstens Beuys muss herhalten, um die Schlange begrifflich zu fassenGlückliche Zeiten, als die Kunstwerke sich stets am gleichen Ort wiederfanden

VON BRIGITTE WERNEBURG

Es gibt sie wieder, die Warteschlange, wo man doch dachte, sie sei wahrlich vergangenen. In der Hauptstadt der Berliner Republik tritt sie freilich nicht mehr als das beschämende Symptom des Mangels auf, als das sie noch in Erinnerung ist. Nein, jetzt wird sie als soziale Plastik gefeiert, in der die hoch gespannten Erwartungen der Menschen schöpferisch werden. Restbestände ihrer sozialistischen Tradition mit sich schleppend, scheint sie ganz offenkundig dem Fortschritt der Menschheit verpflichtet. Denn wie man allenthalben hört und liest: Noch nie war sie so prächtig, mächtig und so schön wie heute. Am Mittwoch, dem 1. September, reihte sich die einmillionste Besucherin bei den Wartenden vor dem „MoMA in Berlin“ ein: die 19-jährige Abiturientin Marie Louise Dietrich aus Willstätt im badischen Ortenaukreis. Seit diesem Tag sind die Öffnungszeiten für die Ausstellung verlängert. Bis Mitternacht, am Freitag und Samstag sogar bis zwei Uhr in der Früh öffnen nun die Pforten der Neuen Nationalgalerie. Wartezeiten bis zu elf Stunden haben die Besucher bisher schon auf sich genommen. Und das geht so seit der Eröffnung der Ausstellung im Februar. Einen „Exzess der Duldsamkeit“ erkennt Die Zeit in diesem Phänomen.

Nicht weiter erstaunlich, dass die Schlange, die sich der Kunst wegen entwickelt, nun auch die Kunst der Analyse entwickelt. Wenigstens Beuys muss zitiert werden, um dem Gebilde begrifflich Herr zu werden, das sich, wann immer man vorbeikommt, dreimal um den Mies-van-der-Rohe-Bau windet. Mit Beuys wird die Schlange zum Widerpart der Ausstellung. Als Opferhandlung draußen vor der Tür steht sie gegen den hedonistischen Akt des Kulturkonsums im Innern des Tempels. Einen „kunstreligiösen Kreuzweg“ nennt sie Die Welt. Viel ist von Askese die Rede. Von Entbehrung, die man spüren möchte, von Demut. Einander ausschließende Befunde sind in ihr ohne weiteres zu vereinen: So gilt sie als Spektakel für die Massen, die das absolut exklusive Erlebnis ankündigt. Sie soll die Kommerzialisierung der Kunst schüren und weckt den Sinn fürs Unverfügbare. Niemand stellt sich notgedrungen an, weil die Staatlichen Museen zu Berlin Karten mit genauer Einlasszeit nicht ausgeben, wie es anderswo geschieht. Nein, in dieser Schlange hält man Einkehr.

Weil sie es weniger mit dem Fortschritt der Menschheit hat als mit dem Gründungsmythos der Bundesrepublik, immer wieder neu anzufangen, weiß Die Welt: „Die MoMA-Schlange wird nicht auf Dauer verschwinden.“ Denn aus ihr kommt „die Erneuerung der Gesellschaft, da mag am Standort Deutschland herumbasteln, wer will“. Wann immer den Deutschen künftig die Füße wehtun, mögen sie sich also daran erinnern: Sie spüren die MoMA-Schlange – nichts weniger als die Schmerzen der Erneuerung unserer Gesellschaft. Doch, move global, wait local: Was ist mit den bleischweren Beinen, die sich Franzosen, Italiener, Schweden oder Uruguayer beim Schlangestehen holen? Was gehen sie die deutschen Bastler an?

Die Schlange, das ist wahr, hat tatsächlich einmal den Umbruch der Gesellschaft befördert. Bald fünfzehn Jahre ist es her, und aus dem Wissen um die Schlange von damals ließe sich geradewegs das Gegenteil von all dem behaupten, was nun zu ihr gesagt wird. Nicht Abstand vom Konsum und Askese sucht, wer die Schlange aufsucht, sondern Glück. Im simplen Sinn des Glückhabens. Endlich gibt es das Bohrfutter, das seit Monaten nicht greifbar war, und ein Problem ist gelöst. Komplexer ist das Glück, das in Südfrüchten liegt, in Bildern und Skulpturen; im Luxus des nicht unmittelbar Notwendigen, des Überflüssigen – der freilich plötzlich greifbar scheint. Denn das signalisiert das Bild der Schlange: Als Lohn der Mühe winkt, was zuvor noch fernab des Alltags lag. Wie viele von den Besuchern des „MoMA in Berlin“ ahnten vor Ankündigung der Schau schon, dass sie der dringende Wunsch beseelt, einmal der modernen Kunst zu begegnen, wie sie das Museum of Modern Art in New York gesammelt hat?

Nein, die Schlange draußen ist nicht Gegenspieler zum Geschehen drinnen. Es geht schon darum, zu erfahren, welche denn nun die 200 bedeutendsten Meisterwerke des 20. Jahrhunderts sind. Denn so werden die Kunstwerke annonciert: als Kanon und Quintessenz dessen, was die Moderne zuwege brachte. Zu diesem Zweck geriert sich das MoMA als eine Art Vatikan für die künstlerische Moderne. Das fordert Widerspruch heraus. Ein Kardinal in diesem System, der Kunstkritiker Werner Spieß, einst enger Freund von Picasso und Max Ernst, ehemals Direktor des Nationalmuseums für moderne Kunst im Pariser Centre Pompidou, befand nun kurz vor dem Ende der Schau, dass die Museumsleute aus Manhattan mit „gezinkten Karten“ spielten. In „geradezu expansionistischer Weise“ dürften sie in Berlin „nicht nur die eigene Sammlung, sondern die amerikanische Kunst zum Kulminationspunkt der Entwicklung erklären“, schrieb Spieß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dies gelinge der Mannschaft um den Museumsdirektor Glenn Lowry, so Spieß, weil sie im zweiten Teil der Ausstellung, der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die europäischen Künstler aus der Schau herauskuratierten. „Man kommt um den Verdacht nicht herum, die europäischen Künstler sollen einfach geopfert, in die Schranken verwiesen werden.“

Spieß’ Verdacht, hier werde eine neokolonialistische kulturpolitische Attacke gegen Europa geritten, das eh als Hort des Terrorismus gebrandmarkt werden soll – dank Gerhard Richters Stammheim-Zyklus, der als einzige zeitgenössische europäische Arbeit in der Ausstellung vertreten ist –, geht aber am eigentlichen Problem des Museum of Modern Art vorbei. Tatsächlich ist das Museum gar nicht mehr in der Lage, eine kanonische Ausstellung zu behaupten. Die Schau in Berlin ist indirekt eine Verkaufsausstellung, deshalb ist es gut, die amerikanische Moderne groß herauszustreichen. Wie das Wall Street Journal berichtete, verkaufte das MoMA im Mai unter anderem eine Arbeit von Jackson Pollock. „Number 12, 1949“ gehört in eine Serie exquisiter Papierarbeiten, von denen das MoMA nun keine einzige mehr besitzt. Aber 10,4 Millionen Dollar sind ein Argument, das heute kunsthistorische Bedenken zunichte macht. Man soll nicht glauben, dass alle Museumsleute damit gut leben können.

Als Brandname des Museumswesen annonciert, markiert „Das MoMA in Berlin“ einmal mehr die Umstellung von Kunstgeschichte auf Kunstmarketing, die sich dort vollzieht. Die Entwertung der Sammlung wird durch die Sammlung selbst vollzogen, die verkürzt als Event präsentiert wird; als Ausstellung, die die Sammlung in kompakte Teile bündelt, die sie dann für das Ganze ausgibt. Wenn das MoMA im November sein neues Haus in Manhattan eröffnet, sind die glücklichen Zeiten vorbei, in denen man die immer gleichen Kunstwerke an der immer gleichen Stelle wiederfinden konnte. Das neue Haus ist schon jetzt zu klein, die ständige Sammlung ständig zu zeigen, und will sie künftig im Rotationsverfahren präsentieren. Varietas delectat, Abwechslung erfreut – die Besucher; aber den Liebhabern der Sammlung und den Fachleuten macht sie Sorgen. Denn die Sammlung, die regelmäßig ins Depot verschwindet, ist nicht mehr zu überschauen. Geht wirklich alles ins Depot oder geht das eine oder andere Werk stattdessen zum Kunsthändler? Im Falle des MoMA jedenfalls sieht das Wall Street Journal die Staatsanwaltschaft aufgefordert, dafür zu sorgen, dass das Museum seine Verkäufe – wenn sie schon nicht zu verhindern sind – wenigstens transparent macht.

Nicht als Sammlung, sondern als eine Abfolge von Einzelausstellungen wird auch die Sammlung in Berlin vorgestellt, die den Besuchererfolg des MoMA in Berlin fortsetzen soll, die „Friedrich Christian Flick Collection“. Mit einigen Ausnahmen wird man auch hier den Kunstwerken während der siebenjährigen Leihzeit nicht wieder begegnen. Die Rieck-Halle, die der Sammler ausgebaut hat, wird wie eine Kunsthalle funktionieren – und würde sie am Ende der Leihgabe als solche geführt, wäre das vielleicht der größte Gewinn für die Stadt. Soll aber die Sammlung leisten, was die Kunst- und Museumsarbeit in Berlin jenseits der Galerien- und Kunstmarktszene nicht leistet, nämlich aktuelle zeitgenössische Kunst in der Hauptstadt zu präsentieren, verliert sie den Charakter der Sammlung. Wohin die Kunstwerke gehen, nachdem sie im Hamburger Bahnhof, dem Berliner Museum für Gegenwartskunst, gezeigt wurden, wird sich nie erschließen. Ins Berliner Depot, in Flicks Züricher Freilager, nach New York, zu seinem Galeristen David Zwirner, nach St. Gallen, zurück zu Hauser & Wirth? Wird der Sammlungsbegriff fragwürdig, steht auch das Museum mit seinen Aufgaben infrage.

Das alles darf den Menschen, die in der Schlange stehen und darauf gespannt sind, Rousseaus Dschungelsofa und Monets Seerosen im Original zu sehen, gleichgültig sein. Sie nehmen ein Angebot an, das sie nicht abschlagen können. Das wird ihnen durch das Angebot selbst suggeriert. Nie wieder werden sie hier in Berlin, ja selbst in New York nicht, die Kunst des 20. Jahrhunderts so mustergültig sortiert sehen. Es ist eine einmalige Chance, die nur wahrnimmt, wer sich einreiht. Natürlich fordert dieser Erfolg die nächste einmalige Ausstellung heraus, die schon bald kommen wird. Trotzdem ist der Erfolg der MoMA-Ausstellung so überwältigend, dass er vielleicht sogar über die Mechanismen des Marketings triumphiert und die Kunstgeschichte rehabilitiert. Bestätigt der Besucheransturm nicht, dass die klassische Moderne einschließlich der Nachkriegskunst, ja der Pop-, Minimal- und Concept-Art restlos akzeptiert und in die Geschichte der Kunst eingegangen ist, ganz so wie die Kunst des 13. bis 18. Jahrhunderts, die die Gemäldegalerie hinter der Nationalgalerie zeigt? Hieße das aber in der Konsequenz nicht, auch die Sammlung der Kunst des 20. Jahrhunderts, nicht nur ihre Ausstellung, müsste bestehen können?