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Archiv-Artikel

Den großen Bahnhof gab‘s nur für einen

Vor 40 Jahren traf der Portugiese Armando Rodrigues de Sá im Bahnhof Köln-Deutz ein. Die deutschen Medien feierten ihn am 10. September 1964 als „einmillionsten Gastarbeiter“. Köln war bis zum Anwerbestopp 1973 zentraler Umsteigebahnhof für ArbeitsmigrantInnen aus Spanien und Portugal

Von Pascal Beucker

Als sein Name ausgerufen wird, erschrickt er. Sollte etwa der Arm des Diktators António de Oliveira Salazar bis nach Köln-Deutz reichen? Erst nach langem Zögern entsteigt Armando Rodrigues de Sá dem Zug, der ihn in drei Tagen von Lissabon an den Rhein und in eine fremde Welt gebracht hat.

Doch auf dem Bahngleis erwarten den Übermüdeten nicht die Häscher des portugiesischen Diktators, sondern die Werkskapelle von Felten & Guilleaume mit „Auf, in den Kampf, Torero“. Und Manfred Dunkel, der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes der Metallindustrie im Regierungsbezirk Köln, der verkündet: „Ohne die Mitarbeit der Ausländer wäre unsere wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre nicht denkbar gewesen.“

Deswegen auch hat die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) Großes geplant mit Armando Rodrigues de Sá: Sie hat ihn zum „millionsten Gastarbeiter“ der Bundesrepublik Deutschland auserkoren. So haben sich etliche Honoratioren, darunter die Botschafter Spaniens und Portugals, und dutzende Journalisten eingefunden, um den hageren Zimmermann aus dem nordportugiesischen Dorf Vale de Madeiros feierlich zu begrüßen.

Zufällig auserkoren

Der bedankt sich höflich auf Portugiesisch für den freundlichen Empfang. Wie lange er in Deutschland bleiben werde, wisse er noch nicht. Aber dass er Frau und Kinder so schnell wie möglich nachholen wolle. Nicht nur dieser Traum sollte für ihn und viele andere „Gastarbeiter“ nicht in Erfüllung gehen.

Dass unter den 933 Spaniern und 173 Portugiesen, die an jenem 10. September 1964 mit zwei Sonderzügen auf dem tiefer gelegenen Gleis 12 des Deutzer Bahnhofs eintrafen, die Wahl ausgerechnet auf ihn fiel, war reiner Zufall. Denn der 38-Jährige war durch Blindtippen aus den Vorauslisten herausgefischt worden. Allerdings war der BDA auf Nummer sicher gegangen: Für den Fall, dass ihr Auserkorener – wie es tatsächlich 24 Portugiesen passierte – an der Grenze hängen bleiben würde, hatten sie sich bereits einen Ersatzmann ausgesucht. Aber der wurde nicht benötigt, und so wurde an jenem Tag nicht ein anderer portugiesischer Zimmermann namens Varela, sondern Armando Rodrigues de Sá zum wohl berühmtesten Gastarbeiter Deutschlands.

Ein Foto geht um die Welt

Sein Foto kennt heute immer noch jedes Kind: ein unrasierter, verunsichert wirkender Mann in blauer Arbeitshose, verschlissener Jacke und mit breitkrempigem Hut, der mit einem Blumenstrauß auf seinem Begrüßungsgeschenk sitzt. Die „Zündapp Sport Combiette“ steht heute im Haus der Geschichte in Bonn.

1955 schloss Deutschland das erste Anwerbeabkommen mit Italien ab, es folgten Spanien, Griechenland, die Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und zuletzt 1968 Jugoslawien. Während Italiener, Griechen, Türken oder Jugoslawen grundsätzlich im Münchner Hauptbahnhof ankamen, ging es für die Menschen von der iberischen Halbinsel an den Rhein.

„Köln war zentraler Umsteigebahnhof für Portugiesen und Spanier“, berichtet Jan Motte vom Landeszentrum für Zuwanderung Nordrhein-Westfalen. Ab Mai 1961 kam einmal die Woche ein Sonderzug mit spanischen Arbeitsmigranten im Deutzer Bahnhof an. Die ersten sechzig Portugiesen erreichten Köln im Juli 1964. Regelmäßig donnerstags trafen rund tausend „Gastarbeiter“, wie sie genannt wurden, von der iberischen Halbinsel in Köln ein, um von dort quer über die Republik verteilt zu werden.

Mit Koffern aus Pappe

Bis zum Anwerbestopp 1973 kamen insgesamt fast eine halbe Million Menschen in Deutz an. Sie kamen ohne Familie, sprachen kein oder kaum Deutsch und wussten fast nichts über ihre neue Heimat irgendwo im Ruhrgebiet oder Baden-Württemberg.

Einen großen Empfang, wie er für den „millionsten Gastarbeiter“ inszeniert wurde, bekamen die Neuankömmlinge nicht, wie Oscar Calero, damals spanischer Sozialbetreuer im Auftrag der Deutzer Bahnhofsmission, berichtet: „Auf dem Bahnsteig standen schon Angehörige und Bekannte in gespannter Aufregung. Dazwischen die Leute vom Arbeitsamt und die Vertreter der Firmen, um wie jeden Donnerstag die Sortierung der Ankommenden vorzunehmen. Die stiegen aus den Zügen, bis zu tausend auf einmal, unrasiert, erschöpft, stinkend nach Mensch am Ende einer manchmal viertägigen Reise. Mit ihren altertümlichen Koffern aus Pappe, den Tonkrügen mit Wasser für unterwegs, zogen sie den Bahnsteig entlang.“

Einer ungewissen Zukunft entgegen. Wie formulierte es noch Max Frisch? „Wir haben Arbeitskräfte gerufen, und es sind Menschen gekommen.“