Terézia Mora präsentiert ihren ersten Roman „Alle Tage“ im Literaturhaus
: Labyrinthische Irrfahrt

Sie schreibe „grausame Märchen für Erwachsene“. So charakterisierte Terézia Mora ihr Schreiben, als vor fünf Jahren ihr Debüt, der Erzählband „Seltsame Materie“, erschienen war. Von beidem, dem Grausamen und dem Märchenhaften, lässt die ungarische, seit langem in Berlin lebende Autorin auch in ihrem ersten Roman „Alle Tage“ nicht, aus dem sie jetzt im Literaturhaus liest.

„Wovon ich rede, sind herzzereißende und oder komische Geschichten. Extremes und Skurriles. Tragödien, Farcen, echte Tragödien. (...) Das Leben ist voller furchtbarer Zufälle, unzählbarer Ereignisse“, heißt es ganz zu Anfang. Und dann beginnt sie, die Geschichte Abel Nemas, oder genauer: Wir steigen ein in seine labyrinthische Lebensirrfahrt. Da hängt er kopfüber an einer Teppichklopfstange, der schwarze Mantel flattert im Wind, gleicht einer riesigen Fledermaus. Seltsam erscheint das, und dieses Gefühl des Seltsamen, nicht Fassbaren wird einen über die gesamte Dauer der Lektüre nicht verlassen. In vielfach verschachtelten chronologischen Sprüngen entblättert Mora das Leben ihres „Helden“, dessen Haupteigenschaft die Flüchtigkeit ist.

Abel Nema hat eine ganz reale Flucht erlebt. Vor einem Krieg in seinem Heimatstaat im Osten ist er in eine westliche Metropole geflüchtet. Da hatte er seine privaten Katastrophen schon hinter sich. Der Vater verschwand von einem Tag auf den anderen; der Freund Ilia wies ihn harsch zurück, als er ihm seine Liebe gestand. Eine Wunde, über die er nie mehr sprechen wird. Wie er überhaupt das persönliche Sprechen aufgibt, um stattdessen ein Sprachgenie zu werden: „Das Gewusel von Erinnerung und Projektion, Vergangenheit und Zukunft, das die Gänge verstopfte, (war) irgendwo verstaut, und er, nun leer, (war) bereit zur Aufnahme einer einzigen Art von Wissen: von Sprache.“ Er lernt wie ein Besessener, zehn Sprachen – ein Spezialist für fremde Worte, der die eigenen verlor.

Verloren hat er auch seinen Orientierungssinn, verläuft sich immerzu. Weil er sich an nichts und niemanden bindet, kann er jedem folgen, wenn es sich ergibt. Er lebt eine Weile bei Kinga, einer Lebensgierigen und Verzweifelten. Begehrt für einen Moment Danko, der schön ist und grob. Geht eine Scheinehe mit Mercedes ein. Doch weil er an den anderen Leben nicht teilnimmt, erzeugt er Enttäuschung und Wut. Denn auch das ist rätselhaft an ihm: Diese Mischung aus Hingezogenheit und Irritation, die er bei anderen auslöst.

Mora ist die Sammlerin der vielen Ereignisse, die das Leben dieses Entwurzelten oft nur wie am Rande streifen. Eine poetische dazu, die hier, wie schon im Debüt, einen ganz eigenen Ton erschreibt und eine eigene Rede führt. Bilderreich, die Worte sorgsam setzend. Und dann der plötzliche Wechsel aus der Perspektive der vielwissenden Erzählerin in die Ich-Perspektive der Figuren; für ein, zwei Sätze, als ob sie sich einschalteten in die Rekonstruktion des Geschehenen, ihre Empfindung verdeutlichen wollten. So erzählt sie von Grausamkeiten, Zumutungen: die Abel erleidet, die er anderen zufügt.

Vielleicht ist es kein Märchen, aber doch eine seltsame Geschichte über einen, der angesichts des nur allzu Wirklichen unwirklich werden wollte. Eine großartige Geschichte über Fremdheit und Verlust; Kränkung und Sehnsucht und die Unmöglichkeit zu vergessen.

Carola Ebeling

Terézia Mora: „Alle Tage“. München 2004, 430 S., 22,50 Euro Lesung: Do, 9.9., 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38