: Die Uhr Gottes tickt und tickt und tickt und tickt und tickt …
Wenn der Zeuge Jehovas klingelt, ist wieder ein halbes Jahr rum: höchste Zeit, über Steuererklärungen, Zahnarzttermine und die eigene Erektionsfähigkeit nachzudenken
Die Zeit kann man mit ganz unterschiedlichen Mitteln messen: für die Sekunden gibt es Stoppuhren, für Stunden Wanduhren, für Wochen und Monate Kalender. Für längere Zeitabschnitte habe ich dagegen den Zeugen Jehovas.
„Ich komm dann so in einem halben Jahr wieder“, sagt er jedes Mal, „auf Wiedersehen.“ Ich verfüge nämlich über meinen ganz eigenen Zeugen Jehovas. Er kommt seit Jahren zu mir, ein treuer und zuverlässiger Begleiter. Meine Uhr für halbe Jahre. Ich mag ihn sogar. Viele dieser Gotteskrieger weisen ja von vornherein so etwas bauartbedingt Arschlochhaftes auf, aber meiner nicht, der ist ganz anders. Er ist freundlich und unaufdringlich. Sogar die albernen Sprüche von wegen Gott und so spart er sich schon seit langem – er ist wirklich ein ganz lieber Zeuge. Dafür sage ich brav „auf Wiedersehen“ und mache die Tür normal zu, zügig zwar, aber ohne zu knallen. Nicht selten hauche ich auch noch scherzhaft: „husch“. Ich denke, wir wissen uns gegenseitig zu schätzen. Wir sind ein eingespieltes Team.
Er klingelt immer direkt an der Wohnungstür, das merke ich am Klang, einer Art heiserem Schnarren, wohingegen die Haustürklingel eher durchdringend schrillt, und wenn ich die höre, mache ich erst gar nicht auf: Das ist entweder Reklame oder sogenannte Freunde, die es nicht für nötig befunden haben, sich anzumelden. Letzteres hat sich glücklicherweise mit der Zeit von selbst gegeben. Spontaneität ist ja schön und gut für diejenigen, die glauben, sich das leisten zu können, aber irgendwo muss man auch die Kirche im Dorf lassen, sonst versinkt alles in Chaos, Lotterei und Geschlechtskrankheiten. Oft auch Wurstmilben. Wenn es also an der Wohnungstür schnarrt, ist es im Grunde immer mein Zeuge Jehovas. Der muss nicht an der Haustür klingeln. Irgendjemand hat ihn bereits ins Haus gelassen, wahrscheinlich Gott. Die sollen ja sooo dicke miteinander sein.
Ich spähe also durch den Briefschlitz und sehe meinen Zeugen der Zeit. Ich freue mich, er ist eine wichtige Konstante in meinem Leben geworden. Wieder ist ein halbes Jahr rum. Zahnarzt war beim letzten Mal dran, folglich muss ich diesmal die Steuererklärung machen. Ich öffne kurz die Tür und sage, „Tag, nein danke – immer noch nicht“, er hebt an, „ich komm dann in einem hal …“ und ich schließe behutsam die Tür. Vielleicht erzählt er ja gerade doch etwas von Gott, aber das bekomme ich schon längst nicht mehr mit. Manchmal frage ich mich dann: Von was leben die eigentlich? Und ist das nicht frustrierend? Nicht alle sind wie ich so nett zu diesen merkwürdigen Menschen, und wer mag ihnen das verdenken? Viele schreien und knallen mit der Tür, wiederum andere greifen gar zum Schrotgewehr. Also ich könnte das nicht.
Einen Tag später schnarrt es erneut an der Tür, und wieder ist es die Vergänglichkeit in Gestalt meines Zeugen – das gibt es doch gar nicht! „Tag, nein danke – immer noch nicht.“ – „Ich komm dann in einem halben Jahr wieder.“ Was für ein merkwürdiges Déjà-vu-Erlebnis! Ein Blick auf den Kalender zeigt mir, dass tatsächlich schon wieder ein halbes Jahr vorüber ist. Alles geht immer schneller.
Je älter ich werde, desto rasanter verglüht die Zeit. Am Missionar merke ich das zwar am deutlichsten, doch es gibt auch genügend andere Zeichen: als Kind dehnte sich das Kaffeetrinken am Sonntagnachmittag schier endlos – mit Speed dauert es heute oft nur noch wenige Sekunden. Was ich fälschlich für andauerndes Aprilwetter halte, ist doch nur ganz banal der Wechsel der Jahreszeiten.
Fußballspieler, die ich scheinbar erst gestern in der Bundesliga habe debütieren sehen, werden von rotznäsigen Kommentatoren mit Sprüchen bedacht, wie „der alte Stratege schafft es doch immer wieder, die fehlende Grundschnelligkeit mit seiner Erfahrung wettzumachen“ – dabei ist der Gemeinte gut und gerne fünf Jahre jünger als ich. Natürlich hat die zunehmende Zeitverflugsgeschwindigkeit auch ihre Vorteile: Ich habe praktisch ständig Geburtstag, die Abfolge von Tag und Nacht bietet mir den optischen Genuss eines flackernden Stroboskops, und wer vermisst schon diese quälenden monatelangen Erektionen von früher?
Und schon wieder schnarrt die Wohnungstür, kaum dass ich sie hinter mir geschlossen habe: Es ist mein persönlicher Zeuge Jehovas. Ich sollte ihm das Du anbieten. Und einen Yogi-Tee. Vielleicht sollte ich mich ohnehin von ihm bekehren lassen: Wenn das nämlich alles in dem Tempo weitergeht, könnte ich ein paar Verbündete im Jenseits bald gut gebrauchen. ULI HANNEMANN