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Archiv-Artikel

Erinnerungsschlacht im Altersheim

In kulturpolitisch schwieriger Situation erlebt Osnabrück die Uraufführung von Nancy van de Vates Literaturoper „Im Westen nichts Neues“ nach Erich Maria Remarques Anti-Kriegsroman – Thomas Münstermanns Inszenierung weist die Domstadt als relevanten Theaterstandort aus

aus Osnabrück HENNING BLEYL

Was tut die norddeutsche MetropolenbewohnerIn – sagen wir: aus Hamburg –, die nach Osnabrück kommt? Sie freut sich. Schon beim Einfahren des Zuges über das Klassifizierungsschild: „Osnabrück, das Zentrum im Osnabrücker Land“. Ganz offenbar, die Stadt kennt ihren Stellenwert, schmunzelt der Alster-Snob, um gleich darauf über den Slogan „Zum Glück sind wir in Osnabrück“ zu gackern. Oder über die Vereinshymne des hiesigen Fußballclubs: „Wir sind alle ein Stück VfL Osnabrück.“

Auf dem Bahnhofsvorplatz dann Verschnaufen bei Geflügel-Reifraths „Super Aktion: 4 Schenkel oder 2 Haxen: 6 Euro“, beeindrucktes Starren auf riesige kartoffelgelbe Lettern: „Jetzt neu: 1 x Pommes, 1 Euro 20“. Aber: Was soll es sonst „Neues“ geben in der ostwestfälischen Provinz? Genau das: Im Westen nichts Neues. Die Veroperung von Erich Maria Remarques Anti-Kriegsroman.

Das Stadttheater von Osnabrück, wo Remarque 1898 geboren und 18 Jahre später Kriegsfreiwilliger wurde, war dem Lokalmatador bereits vor fünf Jahren mit einer bemerkenswerten Schauspiel- und Tanzproduktion auf den Leib gerückt. Aber taugt eine Kriegsreportage, so karg und trostlos wie der Domplatz gegenüber des Theaters, auch als Stoff für das Musiktheater?

Ja. Wenn sich für die Umsetzung eine Komponistin wie die US-Amerikanerin Nancy van de Vate findet. Die 73-Jährige ist bekannt für die packende Bearbeitung politischer Themen, dafür stehen neben ihrem Orchesterwerk Tschernobyl auch die Vietnamkrieg-Metapher An American Essay oder Eastern Front nach einem Text von Georg Trakl. In ihrer Wahlheimat Österreich – wo Remarques Roman übrigens bis Anfang der 80er Jahre auf dem Index stand – hat van de Vate nun Libretto und Musik für einen 90-minütigen Dreiakter verfasst.

Mit einem dröhnenden Paukentremolo und melodramatischen Melodiefetzen eröffnet die Szene, die van de Vate in einem Altersheim ansiedelt. Lehrer Kantorek, der seinen Schülern Vaterlandsbegeisterung eintrichtert, wird hier zum fiesen Oberpfleger, der die gebrechlichen Insassen strammstehen lässt. Beziehungsweise sitzen, denn die Hälfte der Truppe fährt Rollstuhl. Während das senile Setting im ersten Akt gelegentlich mit zu dramatischen musikalischen Akzenten konterkariert wird, gewinnt das Werk im weiteren Verlauf an Stimmigkeit. Die alptraumhaften Erinnerungen des Veteranen Paul Bäumer verwandeln den sterilen Aufenthaltsraum allmählich in ein Schlachtfeld, zwischen PVC-Boden und der neonveröhrten Decke mutieren Sofas zu Geschützstellungen, aus Gehhilfen werden Maschinengewehre.

Alte Männer spielen Krieg? Nein, er manifestiert sich unweigerlich: als die niemals auszublendende Realität der ehemaligen Jungsoldaten. Regisseur Thomas Münstermann, der nach eigenem Bekunden unbedingt eine „Ästhetik der Gewalt“ vermeiden wollte, schafft es, mit wenigen Litern roter Farbe, noch weniger Requisiten und quasi-pantomimischem Waffengebrauch eine bedrohlichere Atmosphäre zu schaffen als so mancher Kriegsfilm. Gipfelnd in der Hoffnungslosigkeit der Schlussszene, in der Bäumer seinen verwundeten, schließlich toten Freund hinter die Frontlinie schleppt.

Im Westen nichts Neues ist kein epochales Opernereignis, eher eine an filmmusikalischen Effekten orientierte Schauspielmusik. Aber eine sehr gut funktionierende. Und der in jeder Hinsicht überzeugende Hauptdarsteller (Hans-Hermann Ehrich) sowie das mühelos die Partitur umsetzende Orchester – unter dem neuen Ersten Kapellmeister Hermann Bäumer – weisen Osnabrück durchaus als respektablen Theaterstandort aus.

Trotzdem steht die erfolgreiche Uraufführung am Beginn einer kulturpolitisch höchst brisanten Woche: Dieser Tage wird über die Zukunft der Leitungsstruktur der Städtischen Bühnen entschieden. Schon seit dem Sommer wird die Halbierung der traditionellen Doppelspitze (Intendant und Verwaltungsdirektor) diskutiert – auf Kosten des künstlerischen Kopfes.

Nach dem Willen der Stadt soll nach dem Ausscheiden von Intendant Norbert Hilchenbach im Jahr 2005 ein kaufmännischer Geschäftsführer das alleinige Sagen haben. Doch Hilchenbach, der dem Haus in den vergangenen vier Jahren ein tragfähiges Profil aus Repertoire-Rennern und Uraufführungen verschafft hat, wehrt sich vehement gegen die geplante Überordnung ökonomischer Gesichtspunkte.

„Kreative Prozesse können und dürfen nicht nur als Kosten-Nutzungs-Rechnung organisiert werden“, heißt es in einem offenen Brief, den alle 300 Angestellten des Hauses mitunterzeichnet haben. Nun steht ein Kompromissvorschlag im Raum, demzufolge die Intendantenstelle zwar erhalten bliebe, allerdings ohne Etatverantwortung. Ob dann noch Geld für risikobehaftete Uraufführungen ausgegeben wird, steht in den Sternen. Die Alternativen sind bekannt: Vier Schlegel oder zwei Haxen.

nächste Vorstellungen: 8., 22. und 24.10., 19.30 Uhr, Städtische Bühnen Osnabrück (Domhof 10/11)