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Archiv-Artikel

Geist vs. Materie?

Über Otto Weiningers Leben ist nicht viel bekannt: Sein Vater, ein erfolgreicher Goldschmied, soll ein strenger Patriarch gewesen sein. Otto Weininger trat als 22-Jähriger aus dem Judentum aus, auch seine Schwestern konvertierten nacheinander zum Christentum. Weininger war ein ernsthafter und gleichzeitig flatterhafter Charakter, er wechselte zu verschiedenen philosophischen Schulen, die er jeweils mit rückhaltloser Unbedingtheit vertrat.

Seine Dissertation in Philosophie, 1902 an der Universität Wien vorgelegt, ist nicht erhalten, entspricht aber vermutlich dem ersten Teil seines später berühmt-berüchtigten „Geschlecht und Charakter“, das zunächst „Amor und Psyche“ heißen sollte. Posthum erschien noch das Buch „Von den letzten Dingen“ mit nachgelassenen, teilweise kryptischen Aufzeichnungen. Erst nach Weiningers Selbstmord wurde „Geschlecht und Charakter“ zu einem Verkaufsschlager: Zwölf Auflagen erschienen bis 1910; 1932 war man bei Auflage 28 angelangt, es gab sogar eine handlich gekürzte „Volksausgabe“ des Werks.

Karl Krauss, der Frauenanbeter, verteidigte Weiningers Bedeutung sehr. „Geschlecht und Charakter“ gehörte zu den viel diskutierten Texten vor dem Ersten Weltkrieg. Sein Einfluss auf den Expressionismus – enorm. Oswald Spengler widmete im „Untergang des Abendlandes“ Weininger einen eigenen Platz, auch Adolf Hitler soll von diesem „ehrenwerten Juden“ gehört haben, „der sich umbrachte, nachdem er begriffen hatte, dass der Jude sich von der Zersetzung anderer Menschen nährt“.

Als Doktorand hatte der junge Weininger Sigmund Freud aufgesucht, um ihm das Manuskript seines Buches zu zeigen. Freud soll Weininger geraten haben, solchen Unsinn besser nicht zu veröffentlichen. In einer Fußnote zur Analyse des „Kleinen Hans“ erwähnt Freud später „jenen hochbegabten und sexuell gestörten jungen Philosophen“ und erklärt den Mechanismus des Weininger’schen Schmäh: „Die Beziehung zum Kastrationskomplex ist das dem Juden und dem Weibe dort gemeinsame.“

Welche Feministin mag widersprechen, wenn Weininger schreibt: „Der Phallus ist das, was die Frau absolut und endgültig unfrei macht.“ Eigenartig stark sind in dieser Hinsicht die Parallelen zu „Le deuxième sexe“, in dem Simone de Beauvoir, fast ein halbes Jahrhundert später, das Geschlechterverhältnis grundlegend behandeln wird: Die Frau ist das Andere, das weniger Individuelle. Beauvoir kannte Weininger vermutlich nicht, „Geschlecht und Charakter“ wurde erst 1975 ins Französische übersetzt. Auch der berühmte Satz Jacques Lacans, „la femme n’existe pas“, steht schon bei Weininger: „Das Weib ist nichts, es ist nur Materie.“

ANDREA ROEDIG