: „Keiner glaubte, dass der Laden überlebt“
Die Berliner Grünen werden 25 Jahre alt. Michael Wendt, ihr Mitglied Nummer 1, schaut zurück. Bei der Agenda 2010 überkommt ihn heute das „kalte Grausen“, aber er will in der Partei bleiben. „Wer austritt, muss wissen, wo er hintritt.“ Wendt kritisierte stattdessen die Agenda in einem Papier
von STEFAN ALBERTI
Es hatte sich schon im Sommer angebahnt. „Berlins ‚Bunte‘ wollen jetzt mobil machen. Bürgerinitiativen streben ins Abgeordnetenhaus“ – knallig titelte die Zeitung Der Abend im Juli 1978, neben einer Geschichte über Fußballtrainer Helmut Schön und den US-Sender AFN. Drei Monate später, am 5. Oktober, machten die Bunten Ernst und gründeten als „Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz“ eine eigene Partei. Heute ist der Abend längst vergessen, Schön tot, AFN weg aus Berlin. Die Partei aber gibt es noch, auch wenn sie sich auf eine Farbe konzentriert: Berlins Grüne werden 25 Jahre alt. Immer noch dabei: ihr Mitglied Nr. 1, Michael Wendt.
In der Landeszentrale der Partei in der Lindenstraße legt Wendt, 47, die alte Abend-Ausgabe auf einen Stapel angegilbter Unterlagen und nimmt eine graue Pappkarte in die Hand, die ihn als erstes Mitglied ausweist. Grinsen muss er, wenn er erzählt, wie er dazu kam. 3.500 Männer und Frauen waren zur Gründungsversammlung in den Traditionssaal „Neue Welt“ in Neukölln gekommen. Über 360 davon traten noch am gleichen Abend in die Alternative Liste, kurz AL, ein. Wendt und ein paar andere sollten am nächsten Morgen daraus eine Mitgliederkartei machen. „Da habe ich so lange gebettelt, dass ich die Nummer 1 bekomme, bis die anderen sie mir gegeben haben.“
Für ihn war es eher eine Gaudi. „Es hat doch eh keiner geglaubt, dass der Laden lange überlebt.“ Weniger Partei als Bündnis für die Wahl zum Abgeordnetenhaus ein Jahr später wollte man sein. Der Laden überlebte, und 1981 gehört Wendt zu den neun, die als erste Grüne ins Abgeordnetenhaus einziehen. Im ersten Anlauf, ein Jahr nach Parteigründung, hatte die Mobilmachung, die der Abend ausmachte, nur teilweise Erfolg gehabt: AL-Vertreter kamen zwar in Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) in Schöneberg, Kreuzberg, Wilmersdorf und Tiergarten, nicht aber ins Landesparlament.
Doch 1981 nehmen die Alternativen mit Wendt auch diese Hürde. Sie sind im Abgeordnetenhaus – aber noch lange nicht akzeptiert. „Es hat Wochen, vielleicht sogar Monate gedauert, bis einem da mal jemand die Hand gegeben hat“, erinnert sich Wendt. Heute duzen sich auch Grüne und CDUler.
25 ist Wendt zum Start seiner zwei Parlamentsjahre, fertiger Maschinenbauingenieur, politisiert bei den Schülerstreiks Anfang der 70er, dann bei den sozialistischen „Falken“ . Die Arbeit für die AL macht aus dem Ingenieur einen Politprofi. Wendt wird 1989 Stadtrat, erst in Neukölln, ab 1999 bis zur Bezirksfusion in Tiergarten, zuständig für Jugend, Schule und Kultur.
In BVV und Parlament geht es für die Alternative Liste, die sich erst 1990 Grüne/AL und 1991 in „Bündnis90/Die Grünen“ umbenennt, auch darum, ihr Verhältnis zu den etablierten Parteien zu klären. Im Archivstapel vor Wendt steckt einer der ersten Mitgliederrundbriefe mit den Positionen von 1979. „Wir sind – im Gegensatz zu FDP, SPD und CDU – keine Büttel des Kapitals und stehen den etablierten Parteien unversöhnlich gegenüber.“ Einzelnen, vor allem von der FDP, gesteht man zwar ein demokratisches und liberales Selbstverständnis zu. Dennoch: Gemeinsame Anträge mit anderen Fraktionen soll es nicht geben.
Wie anders im Abgeordnetenhaus heutiger Zeit. Grüne und Bürgerliche geben schon mal eine gemeinsame Presseerklärung heraus, verlassen das Parlamentsplenum zusammen aus Protest gegen den rot-roten Senat, kooperieren beim Thema Risikoabschirmung für die Bankgesellschaft. Aber heute haben die Grünen auch schon zwei kurze Abstecher in den Senat hinter sich und regieren im Bund mit.
Wendt sieht sich bei weitem nicht im Mainstream seiner Partei. Der Koalition mit der Schröder-SPD stand er schon 1998 misstrauisch gegenüber. Dennoch urteilte er damals: „Man kann nicht den ganzen Weg gehen und am Ende sagen: Mit uns nicht. Mitgefangen, mitgehangen.“
Auf einem Foto der ersten grünen Landesparlamentarier sieht man den jungen Wendt mit seinen Kollegen, vielen Pullis, Bärten und längeren Haaren. „Wir waren im Abgeordnetenhaus sofort als AL zu erkennen.“ Heute sitzt Grünen-Fraktionschef Volker Ratzmann im schicken Anzug im Plenum, Bärte tragen nur noch zwei Abgeordnete, und auch die sind eher gepflegt. Alles Äußerlichkeiten? „Das muss jeder selbst für sich wissen. Der Otto Schily, der ist schon vor 1978 als Strafverteidiger mit Krawatte rumgelaufen und konnte das bei uns auch machen.“
Aus den gut 370 Eintritten am Gründungsabend vor 25 Jahren ist heute ein Landesverband von über 3.500 Mitgliedern geworden. Wendt, Mitglied Nr. 1, ist trotz viel Kritik – „wenn ich mir die Agenda 2010 angucke, überkommt mich das nackte Grausen“ – noch dabei. Mitglied Nr. 2 sei aus der Partei raus, wie viele andere, die sich in einer veränderten Politik der Grünen nicht mehr wiederfanden, die Kriegseinsätze und soziale Einschnitte nicht tragen mochten. Gründungsmitglieder verließen den Landesverband genauso wie Jüngere, auch eine Parlamentarierin wie die Europaabgeordnete Ilka Schröder, die Ende 2001 ihre Partei aus Protest gegen die „Angriffseinsätze deutscher Soldaten“ austrat.
Für Wendt war und ist ein Austritt bei aller Kritik keine Option. „Wer austritt, muss auch wissen, wo er hintritt.“ Die Alternative jedoch sieht er nicht, auch nicht bei den Globalisierungskritikern von Attac, von denen er aber Ausstrahlung auf die Grünen erhofft.
Auch wenn er sich oft – und oft vergeblich – quer gelegt hat: Als Mandatsträger und Parteifunktionär, derzeit im erweiterten Landesvorstand, ist ihm klar, dass er für die Parteilinie in die Verantwortung genommen wird. „Natürlich ist das eine Zwitterstellung, aber ich habe meine Position ja auch genutzt.“ Er hat etwa an dem Papier mitgeschrieben, das für den Berliner Landesverband feststellt, „dass die Agenda 2010 nicht unserern Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit entspricht“.
Mit Wendt kam auch Wolfgang Wieland im Oktober 1978 in die Partei, das beständigste grüne Gesicht in der vordersten Reihe der Landespolitik. Christian Ströbele macht Bundespolitik, Michaele Schreyer wurde EU-Kommissarin, Renate Künast Ministerin – Wieland hingegen hält seit 1987 im Abgeordnetenhaus die Stellung, vorwiegend als Fraktionschef bis Anfang dieses Jahres. Selbstkritisch klingt er im Rückblick: „ ‚Diese Partei verkörpert alles, was etablierte Politik so abstoßend macht‘, hätte vor 25 Jahren nach unserern damaligen Maßstäben die Selbstanalyse gelautet“, schreibt Wieland im Parteiorgan und zählt auf: Hunzinger- und Meilen-Affäre, Karrieresprünge, ritualisierte Standing Ovations für einen informellen Vorsitzenden, vorgefertigte Personalpakete. Titel seines Resümees: „Wie wir die wurden, vor denen wir immer gewarnt haben“.
Eine Partei sollte doch immer ein Abbild ihres sozialen Umfelds sein, sagt Wendt. „Und die Basis von 1978 gibt es weitgehend nicht mehr. Da ist es klar, dass sich auch die Grünen verändert haben.“
Und die Bilanz in harten Fakten nach 25 Jahren Parteiarbeit? Wieland nennt dazu Verhinderung der Stadtautobahn durch Kreuzberg, Verhinderung eines Kraftwerks in den Spandauer Forsten, Verabschiedung eines Landesgleichstellungsgesetzes, neues Naturschutzgesetz, Umweltticket, Busspur, Deeskalationsstrategie.
Sein langjähriger Weggefährte Wendt ist zurückhaltender. „Ich glaube, es ist relativ sinnlos, die ganzen materiellen Erfolge aufzuzählen.“ Sinnlos, warum? „Weil die nicht besonders groß waren. Es ist doch immer schwer abzuwägen, was man unmittelbar beeinflusst hat.“ Wie etwa die stärkere Vertretung von Frauen in der Politik: Natürlich sei das ein Erfolg, aber vor allem einer der Frauenbewegung. „Es wäre arrogant, das einfach auf unser Konto zu buchen.“
In den Veröffentlichungen der ersten Jahre klang das noch um einiges euphorischer. 1979 zitierte ein Mitgliederrundbrief Goethe: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“ Heute sagt Wendt: „Von einer Epoche der Weltgeschichte würde ich jetzt nicht mehr reden.“