: Miami Beach
9. Preis: This is a free country
von ALEXANDER WUTZLER
Ja, hier ist noch frei“, sage ich und sie lächelt, weil ich aus Versehen auf Deutsch geantwortet habe. Aber entweder hat sie mich trotzdem verstanden oder meine Antwort ist ihr egal, denn sie setzt sich ohne noch einmal nachzufragen. Sie stellt drei Burger, zweimal French Fries, eine Baked Potatoe, eine Coke, einen Muffin und einen Apple Pie in strategisch günstiger Reihenfolge auf, seufzt und sieht mich an. Ich schaue zur Kasse herüber. Dort hüpft ein Junge mit einem Eis über den Sand und leckt dabei über seinen Handrücken, weil die Eiscreme in der Sonne sofort von der Waffel heruntertropft. Sonst ist niemand in der Strandbar. An der Wand hängt ein Plakat mit einem eisleckenden Mann. Darunter steht: „It’s a free country“.
Ich werde etwas unsicher. Sie seufzt noch einmal, als erwarte sie von mir ein Gebet oder einen Toast, und dann fängt sie an zu essen. Sie sieht gar nicht gierig aus, eher pflichtbewusst. Sie hat ein hübsches feingeschnittenes Gesicht und den fettesten Körper, den ich je gesehen habe. Sie ist so unglaublich fett, dass fett das einzige passende Wort ist. Ich meine, sie ist nicht üppig oder korpulent, sie passt in keinen Euphemismus mehr, sie ist fett in einer dermaßenen Wörtlichkeit, dass ich plötzlich zu Atembeschwerden neige. Um sie nicht anzustarren, beiße ich zaghaft in mein Sandwich.
Weit draußen schillern die Yachten und Segelsurfer und in Strandnähe ist das Meer überfüllt. Niemand hält es jetzt lang in der Sonne aus. Selbst hier im Schatten ist es noch unerträglich heiß. Ich habe auf einmal das Gefühl, dass die Hitze von dem Essen auf unserem Tisch ausgeht, ich rücke ein wenig davon ab. Sie lächelt verlegen. Sie spricht zwischen den Bissen. Sie ist sehr freundlich und hat eine nette, zögernde Art zu erzählen und manchmal lacht sie voll und kehlig. So, als sei ihr gerade etwas klar geworden oder ein alter Witz eingefallen. Ihre Augen und ihr Gesicht sind schnell und fröhlich, ihr Kopf wirkt auf diesem Körper, als steckte er in etwas fest. Um ihren Mund wölben sich Pausbacken und ein Dreifachkinn, als wollten sie auch den Rest des Gesichts verschlingen. Sie fragt, was ich so mache.
Ich komme mir absurd vor. Ich bin ein blasser, dürrer Ostdeutscher, ich habe Sonnenbrand auf den Waden und einen holzigen Nazi-Akzent. Ich bin ein exaktes Gegenteil. Als ich ihr erzähle, dass ich gerade Examen gemacht habe, fragt sie mich strahlend, ob ich dann ein Chirurg werde. Beim Sprechen fängt sie an, stark zu schwitzen. Ihre Lippen glänzen wie frisch geküsst und an ihren Oberarmen zittert bei jeder Bewegung der Speck. „No“, sage ich vorsichtig.
Sie hat beinahe alles aufgegessen und wird sehr lebhaft. Sie sagt, dass sie sich einen Teil des Magens herausnehmen lassen will. Es sei schließlich nicht gesund. Sie macht einen fahrige Geste um ihren Bauch. Und außerdem sehe es hässlich aus. Sie seufzt. Sie isst. Über ihrer Oberlippe hängt ein Tau aus Barbecuesoße. Wenn sie nur fünf Pfund schaffen könnte, dann wäre die Operation möglich. Ob ich mich damit auskenne. Ich antworte etwas Unbestimmtes. Fünf Pfund, wiederholt sie. Ich nicke. Der Schweiß läuft mir an der Wange herunter.
Ich sage, dass ich noch ein bisschen schwimmen möchte, und stehe auf. Wir verabschieden uns und ich wünsche ihr viel Glück und habe so ein seltsames Gefühl, als schüttele ich einer Ertrinkenden die Hand. Als ich schon etwas vom Tisch entfernt bin, ruft sie mich noch mal. Ich muss auf der Stelle treten, weil der Sand unter meinen Füßen glüht. Sie hat sich mit Mühe im Stuhl halb umgedreht. Fett wölbt sich über die Lehne. Sie keucht. Der Sand wird unerträglich. Es sei gefährlich, so kurz nach dem Essen zu schwimmen. Ob ich das nicht wisse? Sie wischt sich mit dem Handrücken über die Kinne. Ich nicke stumm und winke ihr zu. Dann renne ich zum Meer, ich renne noch, selbst als ich schon den kühlen, feuchten Sand erreicht habe und das Wasser unter meinen Schritten spritzt. Dies ist ein freies Land, denke ich und schwimme Richtung Horizont, dies-ist-ein-freies-Land.