: „Der Mann hat verloren“
Ein Gespräch mit dem tunesischen Regisseur Nouri Bouzid über seinen neuen Film „Puppen aus Ton“, Tabuthemen in der arabischen Welt, mangelnde Opposition und das Selbstbewusstsein der Frauen
INTERVIEW EDITH KRESTA
taz: Herr Bouzid, Ihr neuer Film „Puppen aus Ton“ handelt von der Situation der Hausmädchen in Tunesien, den „Bonnes“, die zum Alltag jeder Mittelstandsfamilie gehören. Haben Sie auch ein Hausmädchen?
Nouri Bouzid: Nein, ich habe selbst nie eine Hausangestellte gehabt. Aber ich habe zwanzig Jahre im Haus meiner Eltern gelebt, sie hatten immer drei Hausangestellte. Als ich jung war, war die Hausangestellte diejenige, mit der wir unsere ersten sexuellen Erfahrungen machten, denn wir waren im gleichen Alter. Als meine Frau eine Hausangestellte wollte, sagte ich: Hör zu, wenn du eine Bonne nimmst, lege ich mich nachts zu ihr. Wir Tunesier haben alle diese Fantasien, sie hat mit unserem Erwachsenwerden zu tun. Die Gegenwart der Haushälterin als Körper, der uns zur Verfügung steht – das ist das Paradies für ein Kind.
Wie schon Ihr Film „Bezness“, wo es um jene tunesische Machos ging, die gezielt Touristinnen am Strand anbaggern, haben Sie auch mit „Puppen aus Ton“ wieder ein Tabuthema aufgegriffen. Warum?
Ich wollte eine Geschichte aus der Sicht der Hausangestellten drehen und darüber, wie der Markt mit den Mädchen läuft. Und über Frauen, die sich diesem System verweigern. Ich zeige immer Personen, die rebellieren, die mit der herrschenden Ordnung brechen. Das sind gebrochene, moderne Charaktere. Aber in Tunesien, in den arabischen Ländern allgemein gibt es die Obsession, alles zu kaschieren. Ich glaube, das ist ein ganz grundlegender Zug der Muslime.
Warum?
Ein Hadith (Ausspruch des Propheten, d. Red.) sagt: „Wenn du etwas Verbotenes tust, dann tue es im Geheimen und regle dein Problem im Geheimen.“ Deshalb ist der, der auf ein Problem zeigt, auch viel gefährlicher als der, der es zu verantworten hat. In dieser Logik ist der, der die Haushälterin ausbeutet, weniger schlimm als der, der die Ausbeutung thematisiert. Das bedingt eine soziale Heuchelei. Das Absurde ist: Tunesien hat eine sehr fortschrittliche Gesetzgebung, was Frauen, Scheidung und die Rechte der Kinder angeht. Wenn ein Hausmädchen beschließen würde zu klagen, könnte sie es tun. Denn es ist gegen das Gesetz, Minderjährige einzustellen oder Leute, die nicht gemeldet sind. Wir haben auch ein fortschrittliches Arbeitsrecht. Aber die soziale Praxis steht natürlich auf einem anderem Blatt. Die ist eher traditionell geprägt, an den Islam angelehnt und feudal.
Wie funktioniert das System der Hausmädchen?
Sie kosten nicht viel. Sie kommen aus Dörfern. Für arme, kinderreiche Familien ist es eine Möglichkeit, an Geld zu kommen. Und für die Mädchen ist es eine Möglichkeit, in die Stadt zu kommen; sie träumen von der Stadt. Es kann durchaus vorkommen, dass eine Schwester mit staatlicher Hilfe studiert und die andere ist Haushälterin. Das Mädchen Rebeh aus meinem Film beispielsweise will nicht mehr zurück in ihr Dorf, sie will keinen von dort heiraten.
Feddah, das andere Hausmädchen in Ihrem Film, ist erst neun Jahre alt, als sie nach Tunis gebracht wird. Sie geht nicht mehr zur Schule, obwohl in Tunesien für alle die Schulpflicht gilt. Wird das nicht kontrolliert?
Das verfolgt niemand, und niemand beschwert sich darüber. Es hilft der modernen Frau, die arbeiten gehen muss: Sie braucht jemanden für das Haus, das Kind. Man lässt es laufen, weil sich jeder damit arrangiert hat. Wenn es zu Beschwerden von Institutionen käme, wäre das eine außerordentliche Reaktion auf meinen Film. Eigentlich läge es an den Journalisten, auf das Thema der Ausbeutung Minderjähriger hinzuweisen. Leider sind die Journalisten bei uns nicht so. Sie wollen denen gefallen, von denen sie abhängig sind.
Ist Tunesien typisch für die arabische Welt?
Nein, es ist viel weiter entwickelt: Es gibt keine Polygamie, man kann seine Ehefrau nicht verstoßen. Tunesien ist in seiner Gesetzgebung sehr fortschrittlich und auch ökonomisch. Aber es ist kein freies Land: Es gibt einen Mangel an Demokratie.
Hatten Sie mit Ihrem Film Schwierigkeiten bei den staatlichen Institutionen?
Nein. Mit „Bezness“, den ich 1992 drehte, hatte ich viele Probleme. Das Ministerium strich mir damals die Subvention. Wir beschlossen damals, den Film trotzdem zu machen, und wir haben teure Szenen einfach rausgelassen. Dann gab man uns keine Dreherlaubnis. Ich schrieb an den Präsidenten und berief mich auf die Freiheit der Kunst, wie sie im Gesetz verbrieft ist. Am nächsten Tag hatte ich die Genehmigung.
Im Ausland war „Bezness“ sehr erfolgreich. Wie kam der Film in Tunesien an?
Die Reaktionen auf den Film haben mich sehr erstaunt. Selbst Leute, die als liberal gelten, haben das Bild abgelehnt, das der Film von Tunesien zeichnet. Dabei steckt in jedem Tunesier ein Stückchen „Bezness“ – das Anbaggern von Touristinnen ist etwas, was Mann einfach macht. Der Film hat das gezeigt, und das wollen die Leute nicht. Es gab eine denunzierende Kampagne in der Presse, und viele Leute schämten sich, in den Film zu gehen.
Einige Monate später startete der Film in den USA und bekam dort ausgezeichnete Kritiken, und so war es auch in Israel. Der Film lief dort mit viel Erfolg, denn auch viele Israelis haben sich in dem Film wiedererkannt: weil das Phänomen auch bei ihnen existiert. Als es im Ausland die guten Kritiken gab, wurde ich vom Ministerium umgarnt. Sie haben den Film noch einmal gezeigt, und später sogar im Fernsehen! Von dem Kampf um „Bezness“ haben viele Filmemacher profitiert. Die Regierung hat verstanden: Wenn man einen Film verbietet, dann bekommt er erst recht Öffentlichkeit.
Gibt es eine Opposition zum herrschenden System in Tunesien?
Ja, jeder auf seine Weise, aber nichts Organisiertes. Wovor ich mich fürchte, das ist die Apathie der Gesellschaft. Die tunesische Gesellschaft ist total untertänig.
Gibt es keine Zivilgesellschaft?
Nein, die Gesellschaft ist total am Materiellen orientiert. Es gibt kein politisches Bewusstsein. Es gibt nichts anders als das Materielle. Das macht Angst.
Wie erklären Sie sich diesen Materialismus?
Wir haben eine entwickelte Mittelklasse: Die hält an ihren Errungenschaften fest und hat gleichzeitig Angst vor dem Absturz. Die Mittelklasse ist leicht zu kaufen, leicht zu manipulieren. In Tunesien repräsentiert die Mittelklasse im Gegensatz zu Marokko fast 80 Prozent der Bevölkerung: Das ist enorm. Der Tunesier ist immer mit dem Materiellen beschäftigt: der Abzahlung seines Hauses, seines Autos, seines Urlaubs.
Gibt es gar keine politischen Alternativen?
Doch, aber die machen mir noch mehr Angst: Die Einzigen, die dagegen sprechen, sind die Islamisten. Ob man will oder nicht: die Alternative in der arabisch-islamischen Welt sind überall die Islamisten. Es gibt keine linke Alternative. Einzig die Jugendlichen und vor allem die Frauen haben sich in Tunesien dank der Freiheiten durch Bourguiba so weit entwickelt, dass sie ein Bollwerk gegen die Islamisten bilden. Sie lassen sich nicht mehr einsperren.
Hat die tunesische Frau den Mann inzwischen überholt?
Die tunesische Frau hat unglaubliche Fortschritte gemacht. Nicht nur, was die Bildung betrifft – auch was ihre Stel- lung in der Familie angeht: Die tunesische Frau ist bewusst, sie ist emanzipiert und informiert. Ich glaube, die tunesi- sche Frau hat sehr große Fortschritte gemacht und der Mann nur wenig; sie hat den Mann überholt. Unglücklicherweise ist der Mann – mich eingeschlossen – ein Hindernis geworden. Die Männer haben sehr viel verloren. Auch ich, der ich als fortschrittlich gelte, hinke oft hinterher: Im Alltag akzeptiere ich den Fortschritt der Frau nur schwer.