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Archiv-Artikel

Meister der Überforderung

Die weite Welt des subversiven Theaters bündelt er in Kreuzberg: Matthias Lilienthal, Intendant des Theaters des Jahres

Matthias Lilienthal ist schuld: dass Theaterkritiker in Berlin ständig das schlechte Gewissen drückt, schon wieder ein Supergastspiel oder einen Vortrag zu einem wichtigen Diskurs versäumt zu haben. Seit Lilienthal als Intendant vor einem Jahr drei kleine Theater in Berlin Kreuzberg übernommen und in das HAU-Theaterkombinat verwandelt hat, verliert man schon beim Studieren der Programme gelegentlich den Überblick. So viele große Namen aus der internationalen Theateravantgarde, so viele theorieverliebte Stichworte: Die Auswahl fällt schwer.

Matthias Lilienthal hat Glück: Heute erscheint das Jahrbuch der Fachzeitschrift Theater heute mit einer großen Kritikerumfrage, und da wird das HAU-Theaterkombinat zum Theater des Jahres gewählt. Ein ehrenwerter Titel, der als Vorschusslorbeer lange trägt. Dass er mit nur 6 von 39 Kritikerstimmen das meistgenannte Theater war, spielt da kaum eine Rolle.

„Überforderung“ ist eines seiner Lieblingsworte: Überforderung der eigenen, kleinen Mannschaft, die ohne eigenes Ensemble auf den drei Bühnen 335 Aufführungen und 120 Projekte in der ersten Spielzeit stemmte; Überforderung der Künstler, die hier oft ihre sicheren Terrains verlassen; Überforderung des Publikums, das nicht so genau weiß, was es bekommen wird. Und selbst den Partys, die schon fast obligatorisch wie eine Belohnung auf jede Überforderung folgen, sind längst nicht mehr alle gewachsen. Nur der Intendant selbst scheint unermüdlich.

Das war Lilienthal schon als Chefdramaturg an der Volksbühne in Berlin (1991–1998) und Leiter des Festivals „Theater der Welt“ (2002). Damals begann seine besondere Pflege der Theaterfreundschaften nach Belgien, New York, Russland und Argentinien, die den Gastspielen am HAU ihre Schwerpunkte geben. Dieser Weltläufigkeit gegenüber setzt er in seinem Programm ein randständiges Berlin, das vom Leben ohne Geld und vom Theatermachen ohne Geld geprägt ist. Er pflegt nicht das Bild von Berlin als Metropole, die international aufschließt, sondern von Berlin-Kreuzberg als geschult im Überleben der ökonomischen Krise und deshalb interessanter als der Blick in die neue Mitte. Es ist dieses Festhalten an den nicht mehr ganz so frischen Idealen der Subversion, die ihm Sympathien in einer Zeit eintragen, in der viele Emanzipationsbewegungen als Luxus der Vergangenheit abgestempelt werden.

Vor allem aber liebt Lilienthal das Entkommen: Raus aus dem, was als Kunst schon feststeht, raus aus den Häusern, an denen Kunst schon außen dransteht. Deshalb springt er ein, wenn es gilt, den Palast der Republik, der seit Jahren mit verrammelten Türen seinem Abriss im Zentrum der Stadt entgegenharrt, mit einer künstlerischen Zwischennutzung wieder zu einem öffentlichen Ort zu machen. Nicht zuletzt macht er sein Haus deshalb auch gerne auf: etwa für den taz-Kongress, mit dem diese Zeitung in diesem Sommer ihr 25-jähriges Bestehen gefeiert hat. KATRIN BETTINA MÜLLER