: Deutschland, edelweiß
Dem Versorgungsdenken im Osten stehen im Westen die Reflexe verwöhnter Kinder gegenüber – die Republik schwankt so zwischen Larmoyanz und großer Tragödie
Vorsicht, Gefahr! Eine ganzes Heer von Zerstörern à la Karius und Baktus hat zum Angriff auf die deutschen Münder geblasen. In diesem Sommer gab es an den Stränden und in den Biergärten kein anderes Thema mehr als Gebisse, Prothesen, Kronen und Amalgamfüllungen. „In der DDR hätte das alte System nicht zugelassen, dass überall zahnlose Menschen auf den Straßen herumlaufen!“, wettert ein Montagsdemonstrant aus der ermatteten Menge in Magdeburg. „Niemand muss mit Zahnlücken leben!“, versprechen die Sozialdemokraten, die auf eine kleine Revolution verzichten, nämlich die Deutschen zum Abschluss einer Zusatzversicherung zum Preis von acht Euro monatlich zu verpflichten, um ihren Beitrag zur Finanzierung ihrer Zahnprothesen zu leisten.
Blanke Zahnreihen im Edelweiß-Look, ohne Lücken und ohne Macken, das ist das neue Statussymbol der coolen Gesellschaft. Die Falten auf den Hüften der Inderinnen sind Zeichen der reichhaltigen Ernährung der höheren Kasten. Die Zähne der Deutschen plakatieren in aller Öffentlichkeit Jugend und Gesundheit. Ist die Einführung einer privaten Übernahme der Kosten deswegen zum Fokuspunkt einer immensen, irrationalen Angst geworden?
Im Osten erwecken die Zähne sämtliche Nostalgieträume zu neuem Leben: Der gerechte, beschützende ostdeutsche Staat kommt (von Mund bis Fuß) für sein verdienstvolles, arbeitsames Volk auf. Im Westen illustriert diese Polemik die Mentalität der „Vollkaskoversicherten“. Fenster, Autos, Urlaub, Familiensilber, eventuelle Prozesse, Hunde und natürlich auch die Zähne – alles ist versichert, verriegelt, fest zementiert. Dem Staat – und nur dem Staat – kommt die Aufgabe zu, über das strahlende Lächeln seiner Bürger zu wachen. Was die Deutschen vergessen oder nicht wissen wollen, ist, dass Franzosen und viele andere Europäer schon seit langem einen nicht geringen Anteil an ihren Zahnprothesen aus eigener Tasche zahlen. Das deutsche System der sozialen Sicherung ist eines der großzügigsten in der ganzen Welt.
Das Geld, das ein deutscher Arbeitsloser erhält, ist auch in der Neuberechnung nach Hartz IV wesentlich üppiger als das, was sein britischer oder italienischer Bruder bezieht, ganz zu schweigen von den Polen oder den Balten, den Cousins aus den Volksdemokratien vergangener Zeiten, mit denen sich in den neuen Ländern keiner mehr zu vergleichen gedenkt. Die Panik eines Landes, das immer noch eines der reichsten der Welt ist, ist schwer zu erklären. Wenn der Spiegel titelt: „Die Angst vor der Armut“, dann kann man nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken.
Dem Versorgungsdenken im Osten stehen im Westen die Reflexe verwöhnter Kinder gegenüber. Am Montag sah man in Magdeburg eine ostdeutsche Rentnerin, eine schöne, würdige, alte Dame, die ihr Fahrrad durch die Menge schob und ein Plakat daran befestigt hatte: „Wir sind nur noch Futter für die Vampire, Geier und Ratten! Die Wessies haben den Osten kaputt gemacht!“ Und auf dem selben Straßenabschnitt schimpft ein bayerischer Steuerberater auf Geschäftsreise in Magdeburg: „Undankbare Bande, wenn ich an das ganze Geld denke, das wir hier hingekippt haben!“ Vom Bürgersteig aus beobachtet er den Demonstrationszug und gesteht begeistert, dass hier noch viele gute Immobiliengeschäfte zu tätigen sind. Deutschland ist weit entfernt von dem „es wächst zusammen, was zusammengehört“, von dem Willy Brandt träumte. Und der energische „Ruck der Gesellschaft“, den Ex-Bundespräsident Roman Herzog predigte, brachte nur schlaffe, kollektive Larmoyanz hervor.
In der erschöpften, illusionslosen Menge, die sich seit Wochen am Fuße des Magdeburger Doms versammelt, überkam mich ein Gefühl des Déjà-vu. Ein seltsames Flashback. Es waren dieselben, die vor 15 Jahren Montagabends zu gleicher Stunde am selben Ort waren. Diejenigen, die heute ihr Elend beschreien, sind diejenigen, die 1989 auf die Straße gingen und die Wiedervereinigung, die D-Mark, die Anpassung an die Westgehälter um jeden Preis forderten. Diejenigen, die sich auf Raten einen Farbfernseher und ein Westauto kauften. Diejenigen, die Helmut, den Erlöser, bejubelten, als er „blühende Landschaften“ versprach. Diejenigen, die sich nicht mucksten, als westdeutsche Gesetzespakete von der in Auflösung begriffenen Volkskammer verabschiedet wurden. Sie waren es auch, die die Initiatoren der ostdeutschen Revolution, die den dritten Weg einer reformierten, unabhängigen DDR forderten, als Illusionäre bezeichneten. Die Revolution hatte ihre Kinder schnell gefressen. Wer vorhersah, dass die Wiedervereinigung im Sturmschritt nicht unbeschadet möglich sein würde, der wurde als Defätist und Außenseiter tituliert. Die Enttäuschung ist umso größer, je wolkenloser der Traum des Westens war. Die Wut sitzt umso tiefer, je grenzenloser die Naivität war.
Manchmal frage ich mich, wie sich Frankreich einer so weitreichenden wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltung gestellt hätte. Und ich sage mir lachend, dass die französischen Abgeordneten wohl noch bei der Aushandlung des Wiedervereinigungsvertrags wären. Dann springt mir das riesige Ausmaß der in Deutschland vollbrachten Aufgabe ins Auge. Als ich in Magdeburg, wo ich seit 1990 nicht mehr gewesen war, aus dem Bahnhof trat, erkannte ich nichts mehr wieder. Ich erinnere mich an eine düstere Stadt, durchzogen von grauen Betongebäuden, die bis zu den Bombardierungen im Januar 1945 eine der Barockjuwelen Europas gewesen war. Magdeburg hat sich gehäutet. Die Fassaden sind gereinigt, die neuen Dächer wirken wie aus dem Legokarton. Keine Schlaglöcher mehr auf den Straßen, kein einziger Trabbi knattert mehr. Zwei Einkaufszentren von obszönem Ausmaß entstanden nur wenige Meter voneinander entfernt.
Die saubere Fassade kaschiert die große Tragödie des Ostens: eine Arbeitslosenquote von 20 Prozent, an der sich so schnell nichts ändern wird. Man verhungert nicht, auch nicht mit Hartz IV, und man hat noch alle Zähne im Mund. Aber man fühlt sich erniedrigt und nutzlos. Diese Entwertung ist ein Fakt. Diejenigen, die über 50 sind, diese „jungen Alten“, wie man sie grausamerweise getauft hat, werden nie mehr eine Arbeit finden. Die Jungen lungern auf der Straße herum oder gehen in den Westen oder ins Ausland. Kann sich ein Land wie Deutschland eine „verlorene Generation“, Geisterstädte, die wie Altersheime aussehen, und Jugendliche ohne Zukunft erlauben?
PASCALE HUGUES
Aus dem Französischen von Brigitte Schmidt-Dethlefsen