Nur Wahlen, Frieden nicht


aus Wedeno und Alchan-Jurt KLAUS-HELGE DONATH

Von dem Fremden nehmen die Bergbauern keine Notiz. Unkrautjäten, Kohlwässern und die Kartoffelernte gehen vor. Nicht einmal der Junge auf dem mit Holzstämmen beladenen Leiterwagen würdigt den Neuling eines verstohlenen Blickes. Beklemmende Stille liegt über Charatschoi am oberen Ende des Tales von Wedeno. Von kaukasischer Neugier und tschetschenischer Gastfreundschaft, die der Brauch sonst zur Pflicht erhebt, fehlt hier jede Spur.

Charatschoi ist ein recht wohlhabendes und intaktes Dorf, das der jahrelange Krieg in Tschetschenien verschont hat. Niemand, auch nicht russisches Militär, hat in den vergangenen vier Kriegsjahren hier einen Fuß hingesetzt. Wohlweislich. Der letzte russische Posten liegt zehn Kilometer südlich am Rand von Wedeno, einem Ort mit 4.000 bis 6.000 Einwohnern. Dort hat die russische Streitmacht eine Kommandantur errichtet, eingebunkert hinter dutzenden von Betonquadern und zerstörtem Kriegsgerät. Überwintern lautet die unausgesprochene Devise des Militärs, die Heimreise – lebendig – nicht aufs Spiel setzen.

Wedeno galt schon immer als Hochburg des tschetschenischen Widerstandes. Der legendäre Held des ersten Kaukasusfeldzuges, Imam Schamil, hatte sich in dem Dorf verschanzt, bis ihn ein überlegenes zaristisches Heer 1859 nach blutigen Niederlagen endlich in die Flucht schlug. Schamil nahm den Weg nach Dagestan über Charatschoi, das sich auch noch im Herbst an satte grüne Hänge schmiegt hoch oben über dem gleichnamigen Fluss. Hinter dem Ort führt nur noch ein Karrenweg hinauf in den ewigen Hochgebirgsnebel bis in die Nachbarrepublik Dagestan. Früher einmal, in ruhigen Sowjetzeiten, war dies eine beliebte Bergsteigerroute, die am Kesenoiam-See endete. Dort schuf die Natur eine natürliche Festung, der selbst Flieger nichts anhaben können. Gerüchte kursieren, inzwischen hätten sich in der Einöde „schwarze Witwen“ niedergelassen, jene Selbstmordattentäterinnen, die Russland seit zwei Jahren in Schrecken versetzen.

Vor einer eingefallenen Hütte auf dem Weg türmen sich leere Plastikverpackungen. Marschverpflegung, die nicht aus russischen Armeebeständen stammt. Die Sicht wird immer schlechter, dann ist es so weit. Zwei vermummte Gestalten schnellen hinter einem Felsen hervor, das Gewehr im Anschlag. Sie sind vorsichtig, Minuten zieht sich die Fragerei mit erhobenen Händen hin, bis einer aus der Innentasche der tadellosen Tarnuniform eine mehrseitige Liste hervorzieht. Die Uniform, paradesauber, stammt aus dem Westen, ebenso die dick besohlten Goretexschuhe. Das amerikanische Schnellfeuergewehr ist mit einem computerartigen Zielsuchmechanismus versehen. Die Funkgeräte sind japanischer Herkunft. Alles nur vom Feinsten, davon können russische Soldaten ihr Leben lang träumen.

Während er die Liste durchgeht, lugt er mit dem anderen Auge ab und an unter der Maske hervor, zwischen 20 und 25 Jahre alt wird er sein. Sein Funkgerät meldet sich. Und nun wird klar, die beschäftigten Bergbauern hatten uns angekündigt. In Charatschoi lebt eine verschworene Gemeinschaft. Das ist es, was die Kriegsmaschine ölt. Die schweigende Unterstützung der Bevölkerung, wem auch immer sie am Tag die Treue schwören mag.

Rebellen, die jeder kennt

„Sie sind schließlich unsere Söhne und Brüder“, wird Schamil Burajew später in seinem Haus in Atschkoi Martan erklären. Er war dort Landrat und ist nun einziger echter Gegenkandidat zu Achmed Kadyrow, dessen Wahl zum Präsidenten Moskau an diesem Wochenende orchestriert. Burajew hat aber keine Chance, weil ihn außerhalb des Kreises niemand kennt. „Die Separatisten ausgrenzen bedeutet ewig weiter Krieg führen“, meint er.

Der Aufzug der Separatisten bei Wedeno verrät noch etwas. Nachts kehren sie nach Hause zurück. „Glück gehabt“, meint der Rebell schließlich. „Stehst nicht auf der Liste“, sagt er und reicht die Papiere mit Handschlag zurück. „Weg von hier.“ Angeblich lauern auf der anderen Seite der Schlucht Einheiten des moskautreuen Achmed Kadyrow. Sie werden wegen ihrer brutalen Übergriffe inzwischen mehr gefürchtet als russisches Militär.

In Wedeno bewegen sich die Rebellen auch tagsüber ungehindert. Jeder kennt sie. Auch die Soldaten, die sich im Unterschlupf verkriechen. Wer von ihnen nach Grosny will, für den sind die Kontrollposten auf der Strecke kaum mehr ein Hindernis.

Vor Wedeno haben sich Soldaten auf einer Anhöhe mit Truppentransporter eingebuddelt. Daneben ziert ein riesiger weithin sichtbarer Schriftzug aus Bruchsteinen den Hang: „Hollywood“ – dem Original täuschend ähnlich. Nur, was hier geschieht, ist tödlicher Ernst. Ein bisschen Hollywood und Soap-Opera finden höchstens in Grosny statt, wo der Kreml inmitten einer Ruinenlandschaft Wahlen inszeniert. Mit Präsidentschaftsanwärtern, die Schwierigkeiten haben, den Grund ihrer Kandidatur zu erläutern.

Nicht ein Wohnblock ist in den letzten Jahren wiederrichtet worden. Weder Moskau noch der amtierende Statthalter Kadyrow haben der Stadt ein neues Aussehen gegeben, lediglich die Natur hat die Schuttberge mit frischem Grün zurückerobert und das Schlachtfeld der einstmaligen Halbmillionenstadt in einen verwilderten Friedhof verwandelt. Wo noch eine löcherzerfurchte Wand stehen geblieben ist, hängen nun Wahlplakate: Kadyrow mit und ohne Wladimir Putin. Motto: „Ehrliche Absichten“.

Da lachen laut Umfragen fast 90 Prozent der Tschetschenen bitter. Zumindest sie erinnern sich an Achmed Hadschi Kadyrow, den fanatischen Propagandisten eines fundamentalistischen und unabhängigen Tschetscheniens, der noch 1995 seine Landsleute zum Ghazawat, dem heiligen Krieg, aufgehetzt hatte. Dem kriminellen Treiben, den Morden und Entführungen, die die Tagesordnung der tschetschenischen Unabhängigkeit seit 1997 bestimmten, gab er überdies noch den Segen eines Muftis. Dann wechselte er auf die Seite der Russen und – machte wieder gutes Geld.

Ein Lottomillionär

Im Vorfeld der Wahlen hat der Kreml die ernsthaften Konkurrenten durch Erpressung, Druck oder juristisch-administrative Mauscheleien zum Aufgeben gezwungen. Nur einer ließ sich bis zuletzt nicht einschüchtern. Malik Sajdullajew, Russlands Lottomillionär, ein Tschetschene aus der Moskauer Diaspora. Er ist so etwas wie ein neuer Messias in Grosny. Eine Lichtgestalt, an den die verzweifelte Bevölkerung ihre Hoffnungen knüpfte. Darin übrigens den Besatzern gleich, die mit Wladimir Putin auch einen vermeintlich omnipotenten Retter erkoren. Sajdullajew zog bis vor Russlands Oberstes Gericht, das aber nur das Urteil der tschetschenischen Instanz bestätigte. Angeblich seien Unterschriften auf den Wahlanträgen gefälscht gewesen, somit dürfe er nicht antreten.

Sein Wahlkampfstab wollte bis zuletzt das Ende des Kandidaten nicht wahrhaben, klammerte sich an das Gericht und ein Gespräch Sajdullajews mit Putin. Naivität oder Realitätsverweigerung?

Sajdullajews Wahlkampfmanager Ismail Dadujew hatte gerade erst einen Sohn verloren, ein russischer Posten erschoss ihn im September. Um die Tat zu verdecken, drangen Soldaten in das elterliche Haus ein und versuchten dem Vater Waffen unterzuschieben. Seine Frau konnte es verhindern. Erst vor einem Jahr hatte er den Sohn freigekauft. Für einen Jeep und zwei Maschinenpistolen. Sein Körper sei damals mit schwarzen Blutergüssen übersät gewesen. Gewinnt Kadyrow, will Dadujew seine Familie ins Ausland schicken.

Das Anwesen der Sajdullajews in Alchan-Jurt schützen 30 Bewacher. Erst kürzlich war ein Verwandter entführt und gefoltert worden. Man ließ ihn erst frei, als er versprach, Sajdullajew zu töten. Der Vetter flüchtete sich in die Obhut des Clans und zeigte den Fall bei der russischen Staatsanwaltschaft an. Doch die reagierte nicht.

Auch Elisa Kazajewa war eine zeitlang bei den Sajdullajews untergebracht. Das junge Mädchen ist inzwischen mit ihrer Mutter nach Samaschki im Westen Tschetscheniens zurückgekehrt. Die 16-Jährige spricht kaum. Mutter Kazajewa fordert sie auf, ihre Geschichte zu erzählen. Doch das hübsche Mädchen schweigt. Sie könne nicht, sagt sie mehrmals.

Im August waren Soldaten in das Haus der Kazajews eingedrungen. Zum dritten Mal in diesem Jahr. Der älteste Sohn Elimchan wird seit März vermisst, Soldaten haben ihn entführt. Im August traten sie nachts die Tür ein und nahmen Elisa mit. Seit den Vorfällen mit den „schwarzen Witwen“ hätten die Todesschwadronen es auch auf Frauen abgesehen, meint Mutter Kazajewa. Wie durch ein Wunder kam Elisa nach einigen Tagen frei. Mehrere Dörfer protestierten damals und blockierten den Verkehr der wichtigsten Verbindungsstraße der Republik. Die Entführer warfen Elisa in der Nähe der Garnison Mosdok aus dem Panzer. Sie war geknebelt und geschlagen worden. Mehr, darauf besteht die Mutter, sei mit ihrer Tochter nicht geschehen. Elisa ist völlig verstört. Eigentlich wollte sie früher Krankenschwester werden, sagt sie, aber „nun könnte sie auch in die Berge gehen“.