: Neue Koordinaten für das Glück
Die Störung komponieren: Die Entdeckung des Anderen ist zwar ein alter Topos der Avantgarde, doch im Tanztheater erfährt er weiter konkrete und schöne Bearbeitungen. Zu sehen im Festival „Tanztheater International“ in Hannover, das heute endet
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Ein paar Jahre schon geht nun der Transfer: Immer mehr Tänzer, die in den modernen und klassischen Ensembles Europas und der USA Erfolg haben, kommen aus Japan, China, Taiwan, Vietnam und Korea. Sie erfüllen die gewachsenen Ansprüche an die körperliche Leistungsfähigkeit, an höhere Geschwindigkeiten und größere Komplexität, mit einer Leichtigkeit, die das Bild des Tanzes sanft revolutioniert und bereichert hat um neue Quellen der Energie. Kein Wunder also, dass zeitgenössische Choreografen im Gegenzug neugierig nach Asien reisen. Zu ihnen gehört Micha Puruker aus München, 1998/99 als Gastdozent an die „Korean National University of Arts“ in Seoul eingeladen. Auf diese Zeit geht sein Stück „we believe in miracles …“ zurück, mit sieben Tänzern aus Seoul und drei aus München.
Bei der Aufführung in München saßen die Zuschauer noch auf Sitzkissen mitten zwischen den Lichtbahnen und Bewegungssträngen, die den leeren Raum allmählich mit einem komplizierten Gewebe überzogen; in der Orangerie Herrenhausen in Hannover, wohin das Stück als Teil des Festivals „Tanztheater International“ eingeladen war, waren Bühne und Publikum wieder getrennt. Dennoch stellte es sich schnell ein, das erstaunliche Gefühl, in einer gigantomanen Raumstruktur zwar die Orientierung zu verlieren, aber dabei gar nicht so unglücklich zu sein. Zumindest, solange es gelingt, sich nicht gegen das Anbranden der divergierenden Energien zu sträuben.
Eines der Wunder in diesem Stück ist, mit welcher Weichheit und Elastizität die Tänzer die Bewegungsebenen in der Horizontalen – auf dem Boden – und in der Vertikalen – durch den Raum – verbinden. Das ist nicht bloß eine stilistische oder bewegungstechnische Frage. In diesem gleitenden Auf und Ab werden vielmehr verschiedene Sichtweisen in und auf den Raum miteinander verschränkt, wie die Perspektive in die Tiefe, das vorbeiziehende Panorama oder ein subjektiven Blickwinkel. Für diese Anmutung simultaner Räume und Erzählweisen, die auch für unterschiedliche kulturelle Wahrnehmungsmuster stehen können, braucht Puruker weder Kulissen noch Projektionen. Alles stellt sich aus dem Licht (Michael Kunitsch), einem geräuschversetzten elektronischen Soundscape (Robert Merdzo) und der Bewegung her.
Jeder Einzelne der Tänzer arbeitet eine andere Energie aus und spinnt sich in ihr ein. Ihre Bahnen kreuzen sich zwar, aber Kontakt kommt nur selten zustande. Trotzdem ist diese Vereinzelung keine Einsamkeit: Das Nebeneinander funktioniert wie ein hoch konzentriertes, gut abgestimmtes Werk, in dem viel Heterogenes Platz hat. So entsteht ein Idealbild dessen, was an Ungleichzeitigkeiten nebeneinander existieren kann.
Das Festival Tanztheater International in Braunschweig und Hannover, das heute zu Ende geht, war stellenweise nicht gut besucht; vielleicht, weil die Veranstaltungsorte zu weit auseinander lagen und wohl auch, weil die Festivalleitung diesmal nach prozessorientierten Werken und Projekten des Austausches gesucht hatte, die sich kaum mit Big Names bewerben lassen. Wer sich aber auf die Begegnung mit dem Unbekannten einließ, wurde oft belohnt, wie in dem Stück OOK aus der flämischen Tanz- und Theaterschmiede. 1984 begann das Theater Stap mit geistig behinderten Jugendlichen Theater zu spielen; seine Darsteller sind inzwischen erwachsen geworden, haben aber nichts von ihrer wilden Ausstrahlungskraft verloren. Ihr neues Stück in Zusammenarbeit mit den beiden Choreografen Nienke Reehorst und Sidi Larbi Cherkaoui ein Stück behandelt die große Lust am öffentlichen Auftritt. Das ist ebenso medienkritisch wie selbstreflexiv, denn indem sie Posen ihrer Traumbilder nachahmen, nicht perfekt und selbstironisch mit ihrer Unzulänglichkeit spielend, geben sie selbst schon die viel bessere Performance. In einer starken Szene am Anfang zum Beispiel üben sie den großen Moment, den Höhepunkt jeder Story, wenn der Held stirbt, verzweifelt und von eigener Hand; oder unerwartet und mit ungläubigem Entsetzen; oder an würgendem Gift, an einer Kugel oder aufgeschlitzt vom eigenen Schwert – warum nur, fragt man sich bald nach Atem ringend, ist das so verdammt komisch, wie sie da zu acht oder zehnt nebeneinander auf der Bühne wieder und wieder zum finalen Akt ansetzen. Sie sind ja nicht die Ersten, die diese Posen als Posen vorführen und den überflüssigen Rest der Geschichte großzügig weglassen. Aber ihr Vergnügen an unserem Vergnügen teilt sich unmittelbarer mit.
Sie erzählen von ihren Träumen, das Wetter im Fernsehen anzusagen oder wie ein Popstar und ein Sportler bewundert zu werden. Dafür setzen sie ihre moppeligen Körper in Bewegung, obwohl Bewegung nicht ihr eigentliches Element ist. Fast jede Aktion beginnt als Störung und wird von den anderen aufgenommen, bis aus dem Chaos eine kompositorische Form geworden ist. Als vielstimmiger Chor zeigen sie auch mit dem Finger auf uns, beschimpfen das Publikum und verstoßen gegen die Spielregeln, die zwar zu ihrem Schutz dienen, sie aber auch von anderen isolieren.
Die Namen der Choreografen haben Klang: Micha Puruker ist in München höchst geförderter Choreograf, Sidi Larbi Cherkaoui erhielt 2003 den Movimentos-Tanzpreis der Autostadt Wolfsburg. Auf Handschriften festlegen aber, das belegen ihre Produktionen, lassen sie sich nicht. Der Topos des Austauschs mag alt sein, überholt ist er nicht.