In der Hölle der Löwen

Mit dem Film „Vera Drake“ von Mike Leigh wurde in Venedig das solide Erzählkino ausgezeichnet. Es bildete die Ausnahme in einem Festival, das als eines der Extreme in die Annalen eingehen wird

Leigh gönnt es seinen Figuren nicht, sich aus den Zwängen ihres Milieus zu befreien

VON CRISTINA NORD

Die italienischen Journalisten waren sich ihrer Sache sicher. Mit „99-prozentiger Wahrscheinlichkeit“, orakelte etwa La Repubblica am Samstag, werde der Goldene Löwe an Gianni Amelios Film „Le chiavi di casa“ („Die Hausschlüssel“) verliehen. Doch das Rührstück um einen behinderten Teenager ging leer aus. Stattdessen sicherte sich der englische Regisseur Mike Leigh mit seinem Soziodram „Vera Drake“ den Hauptpreis der 61. Mostra. Imelda Staunton, die die Hauptfigur des Films verkörpert, erhielt zudem die Coppa Volpi als beste weibliche Darstellerin.

„Vera Drake“ ist solides Erzählkino – gut gespielt, gut ausgestattet, die Figuren haben Kontur, die Konflikte erreichen Tiefe. Die namensgebende Vera Drake ist eine robuste und patente Gestalt. Wenn sie bei ihren Wegen durch die lichtlosen Gassen und Wohnungen Nachkriegslondons immer wieder darauf beharrt, dass „a good cup of tea“ Sorgen und Beschwernisse aus der Welt schaffe, so ist das nicht naiv, sondern Ausdruck ihrer Unerschütterlichkeit. Doch Vera Drake hat ein Geheimnis: Sie nimmt Abtreibungen vor. Nicht, weil sie damit Geld verdienen, sondern weil sie „jungen Mädchen aus der Not helfen“ will.

Leigh entwirft einen Kosmos, in dem die sozialen Bezüge so klar umrissen sind wie die Tapetenmuster. Vera Drake ist mit ihrer Familie aus dem Gröbsten heraus. Der Mann arbeitet in einer Autowerkstatt, sie als Putzfrau bei wohlhabenden Familien, der Sohn in einer Herrenschneiderei, die Tochter in einer Glühbirnenfabrik. „Vera Drake“ klammert nicht aus, wie und wovon die Figuren leben, sondern rückt dies in den Mittelpunkt.

Die Lichtverhältnisse korrespondieren mit den Einkommensverhältnissen – je mehr Geld im Spiel ist, umso heller werden die Räume. Veras Schwager hat eine Frau geheiratet, die von der Aufstiegssehnsucht der Kleinbürgerin befallen ist. Als Vera Drakes Geheimnis von der Polizei entdeckt wird, ist sie die Erste, die den Kontakt meidet.

Wenn man Leigh etwas vorwerfen könnte, dann dies: dass er es manchmal ein wenig plakativ zugehen lässt und es seinen Figuren nicht gönnt, sich aus den Zwängen ihres Milieus zu befreien, und sei’s nur für Momente. Wie schon in seinem vorangegangenen Film, „All or Nothing“ wirken die Protagonisten umso geduckter, je weiter der Film voranschreitet, sind ihre Gesichter umso müder, ihre Lider umso schwerer vom Kummer. Glück ist etwas, was nur in der Schwundstufe der Zufriedenheit vorkommt. Und doch: Die Liebe und Geschlossenheit, mit der Leigh vorgeht, machen aus „Vera Drake“ mehr als ein Tableau des traurigen Lebens. Der Film ist ein gutes Beispiel dafür, dass das traditionelle Autorenkino, solange es nicht nur gut gemeint, sondern auch gut gemacht ist, durchaus seine Reize hat.

Damit bildet „Vera Drake“ eine Ausnahme in einem Festival, das als eines der Extreme in die Geschichte der Mostra eingehen könnte. Die Erwartungen an den erst im April ernannten Leiter Marco Müller waren hoch; sie zu erfüllen war er nur teilweise imstande. Der von ihm kuratierte Wettbewerb war gespalten. Auf der einen Seite vereinte er einige herausragende Beispiele eines zeitgemäßen, von den Zwängen des Narrativen befreiten Kinos. Claire Denis, Jia Zhangke, Hou Hsiao-Hsien, Arnaud Desplechin und Hayao Miyazaki präsentierten Filme, die auf je unterschiedliche Weise ihr Medium voranbrachten. Claire Denis, weil es ihr mit, „L’intrus“ („Der Eindringling“) gelingt, eine im Kino selten zu erlebende Form von Körperlichkeit herzustellen. Jia Zhangke, weil sein Film „Shijie“ („Die Welt“) die Verwerfungen des modernen Chinas in präzis gesetzten, farb- und lichtbewussten Digitalbildern erkundet. Hou Hsiao-Hsien, weil er aus der Beiläufigkeit heraus ein beinahe meditatives Kino schafft. Arnaud Desplechin, weil seine Musikalität und seine Vermischung von Komik und Tragik eine wunderbare Freiheit erzeugen. Schließlich Hayao Miyazaki, weil der Einfallsreichtum von „Hauro no ugoku shiro“ („Howls wandelndes Schloss“) an Aberwitz nicht zu überbieten ist. Diese fünf waren nicht die einzigen guten Filme des Wettbewerbs, wohl aber die interessantesten.

Leider standen sie einer Reihe richtig schlechter Filme gegenüber. Da gab es zynische Pseudoprovokationen wie in Todd Solondz’ „Palindromes“, leere Ausstattungsorgien wie in Mira Nairs „Vanity Fair“, kalkulierte Hungerästhetik in Marziyeh Meshkinis „Sag-haye velgard“ („Kleine Diebe“) sowie einen Überschuss an Sentimentalität in Alejandro Aménabars „Mar adentro“ („Das Meer im Innern“). Wenn Javier Bardem für die Rolle des querschnittsgelähmten Ramón die Coppa Volpi für den besten männlichen Darsteller erhielt, so hat das wohl mit dem verbreiteten Irrglauben zu tun, der Part eines Behinderten stelle besonders hohe Anforderungen an einen Schauspieler.

Und es kam noch schlimmer: mit „Ovunque sei“ („Wo immer du bist“) von Michele Placido oder mit Nikos Panayotopoulos’ „Delivery“, in dem haarig-verschwitzte Fleischklopse Sentenzen ausstoßen, als nähmen sie an an einem Sokrates-Imitatoren-Wettbewerb teil. Selbstverliebt suhlt sich dieser Film in der von ihm behaupteten Hässlichkeit der Welt, und man fragt sich: Sind solche Pseudokunstfilme nicht daran schuld, dass ein Kino, das sich als Kunstform ernst nimmt, in Verruf geraten ist?

Nun gehört es zu den Zwängen eines A-Festivals, den unterschiedlichen Weltregionen gerecht zu werden – das mag erklären, warum ein griechischer und ein iranischer Film im Wettbewerb unterkamen, obwohl ihnen das Kalkül auf den ersten Blick anzusehen war. Ein weiterer Zwang besteht darin, möglichst viele US-amerikanische Großproduktionen einzuladen, weil mit der Anwesenheit von Stars das Renommee eines Festivals steht und fällt. Müller hielt diesem Anspruch stand und schickte ein beachtliches Staraufgebot über den roten Teppich: Tom Cruise, John Travolta, Meryl Streep, Robert De Niro, Nicole Kidman, Tom Hanks und viele andere reisten nach Venedig. So dicht war ihre Folge, dass der arme Johnny Depp um zwei Uhr nachts defilieren musste, und Miramax-Boss Harvey Weinstein deswegen etwas unflätig wurde.

Dabei war die Auswahl der Filme nicht die schlechteste; Michael Manns wunderschön fotografierter Thriller „Collateral“ etwa stellte eine Bereicherung dar. Doch die Frage bleibt: Warum kann man diesen und andere Filme – etwa Steven Spielbergs „The Terminal“ – nicht in den Wettbewerb aufnehmen? Warum sollen Filme, nur weil sie aus Hollywood kommen, nicht mit dem europäischen und asiatischen Autorenkino konkurrieren? Stattdessen bläht sich die Sektion der außer Konkurrenz gezeigten Filme zu einem Ungetüm auf. Und das wiederum lenkt die Aufmerksamkeit von den sehenswerten Nebenreihen ab, von Pablo Traperos schönem Road Movie „Familia Rodante“ („Rollende Familie“) oder Takashi Miikes Schwertkampfalbtraum „Izo“.

In „Vera Drake“ sind die sozialen Bezüge so klar umrissen wie die Tapetenmuster

Besonders deutlich wurde das Drama der diesjährigen Mostra auf einem scheinbaren Nebenschauplatz, der Retrospektive „Italian Kings of the B’s“. Ein mutiger Schritt von Marco Müller, die Retrospektive nicht einem kanonisierten Klassiker, sondern dem Schmuddelkino zu widmen. Ein profilierter Schritt, weil Joe Dante und Quentin Tarantino als Paten gewonnen werden konnten und die kleine Sala Volpi regelmäßig mit ihrer Anwesenheit bedachten. Ein fröhliches Aufbäumen überdies gegen den Druck der Kulturpolitik, das Festival zum Schaufenster für die heimische Filmindustrie zu machen. Und doch blieb ein bitterer Beigeschmack. Denn bei etwa einem halben Dutzend der Vorführungen kamen keine 35-mm-Kopien, sondern der Videobeamer zum Einsatz. Von einem Spaghetti-Western wie Sergio Sollimas „La resa dei conti“ („The Big Gundown“, 1966) aber bleibt nicht viel, wenn die Farben versuppen, die Tiefenschärfe verloren geht und die Konturen undefiniert sind. Es sollte sich von selbst verstehen, dass die Retrospektive eines A-Festivals keine Videoprojektionen verträgt – aber nicht so in Venedig.

Hinzu kamen die Organisationsfehler, die sich gerade am ersten Wochenende beachtlich häuften. Wo Vorführungen sich um zwei Stunden verspäteten, Pressekonferenzen zeitgleich mit dem Film stattfanden, englische Untertitel fehlten oder gar – wie bei der Projektion des Omnibus-Films „Eros“, für dessen Episoden Wong Kar-Wai, Steven Soderbergh und Michelangelo Antonioni verantwortlich zeichnen – eine falsche Filmrolle zum Einsatz kam, war das Maß fast voll.

Dabei bildete das Durcheinander die Kehrseite eines mit Macht vorgetragenen Repräsentationsanspruchs: Die sechzig (!) Markuslöwen, die vor dem Palazzo de Cinema auf Säulen aufragten, wirkten in ihrer Monumentalität umso vermessener, je offensichtlicher die Missgeschicke der Festivallogistik wurden, und die Sehnsucht nach stolzer Selbstdarstellung im kulturellen Großereignis war umso idiotischer, je weniger das Ereignis halten konnte, was es versprach.

So erinnerte diese 61. Mostra internazionale d’arte cinematografico ein weing an die Dampfmaschinen in Katsuhiro Otomos schönem, im England der Industrialisierung angesiedelten Animationsfilm „Steamboy“, der außer Konkurrenz lief: Unter Hochdruck und kurz vor dem Zerbersten flogen dort die Schrauben, Muttern und Blechteile nur so durch die Luft.