: „Da können wir gleich Volkskammer spielen“
Der Grüne Werner Schulz über Rücktrittsdrohungen des Kanzlers sowie übers Handheben und Schnauzehalten in der DDR
Interview JENS KÖNIG
taz: Für Ihre Widerspenstigkeit bei der Agenda 2010 haben viele Grüne eine einfache Erklärung: Joschka Fischer hat 1998 und 2002 verhindert, dass Sie Fraktionschef wurden. Jetzt lassen Sie Ihren Frust darüber ab.
Werner Schulz: Der Vorwurf ist kindisch. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ich habe bei einigen Punkten der Agenda 2010 sachliche Einwände. Etliche der Reformen haben eine soziale Schieflage.
Sie haben sich in den letzten Jahren aber weder als Linker noch als Sozialpolitiker hervorgetan.
Ich bin aber auch kein Wirtschaftsliberaler. Ich habe mich immer vehement für soziale Gerechtigkeit eingesetzt. Das war einer der Gründe, warum ich zu den Grünen gegangen bin: die Idee, Ökologie und Sozialpolitik miteinander zu verbinden.
Sind Sie als Bundestagsabgeordneter allein Ihrem Gewissen verpflichtet?
Selbstverständlich. So steht es im Artikel 38, Absatz 1, des Grundgesetzes. Der Abgeordnete ist Vertreter des ganzen Volkes. Er ist nicht an Aufträge und Weisungen gebunden.
Sie erlauben, dass ich lache?
Wieso?
Weil an dieses hehre Ideal kaum ein Mensch mehr glaubt.
Entschuldigung, ich glaube daran. Ich nehme diesen Anspruch sehr ernst.
In vielen Entscheidungen unterwerfen sich die Abgeordneten dem Fraktionszwang.
Ich halte nichts von Fraktionszwang. Ich habe mich dem immer widersetzt. Man muss Abgeordnete überzeugen, nicht überreden oder überwältigen.
Dann nennen wir es eben Fraktionsdisziplin. Gilt diese für Sie?
Natürlich. Eine Fraktion kann nicht zulassen, dass ihre Abgeordneten abstimmen, wie sie gerade lustig sind, heute so und morgen so. Sie sind auch ihrer Partei und deren Programm verpflichtet. Natürlich müssen wir Abgeordnete manchmal bittere Pillen schlucken und schwierigen Kompromissen zustimmen. Wir dürfen uns aber nicht verbiegen lassen. Es geht um unsere Glaubwürdigkeit.
Wer entscheidet, wann sich ein Abgeordneter auf sein Gewissen berufen darf?
Natürlich nur der Abgeordnete selbst und nicht etwa der Fraktionschef.
Ist die Gesundheitsreform oder die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe für Sie eine Gewissensentscheidung?
Nehmen wir Letzteres. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ist an sich eine vernünftige Entscheidung – aber nicht die Herabsenkung des Existenzminimums auf Sozialhilfeniveau, wo wir doch wissen, dass die Regelsätze der Sozialhilfe schon seit Jahren zu niedrig sind. 2002 haben SPD und Grüne ihren Wählern noch etwas ganz anderes versprochen. Und jetzt sollen Menschen plötzlich massenhaft in die Armut getrieben werden. Das ist unerträglich. Dem kann ich nicht zustimmen.
Aus Gewissensgründen?
Ich bin meinen Wählern verpflichtet. Denen habe ich im Wahlkampf gesagt, wir Grünen wollen die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und gleichzeitig eine soziale Grundsicherung, die deutlich über Sozialhilfeniveau liegt. Ein Jahr später soll ich das Gegenteil tun? Das hat doch wohl mit Gewissen zu tun, wenn ich dem jetzt nicht zustimmen kann.
Aber was, wenn die rot-grüne Beruhigung im Wahlkampf falsch war? Politiker müssen Ihre Fehler korrigieren dürfen.
Selbstverständlich. Aber dann wird das Parlament darüber wohl auch debattieren dürfen. Erst aber kriegen wir einen dünnen rot-grünen Koalitionsvertrag vor die Nase gesetzt, in dem von all dem nichts steht. Und nur fünf Monate später präsentiert der Kanzler seine Agenda 2010 als geheime Kommandosache. Die soll plötzlich eins zu eins umgesetzt und von den Abgeordneten nur noch abgenickt werden.
Sie wollen, dass die rot-grüne Koalition weiterregieren kann?
Selbstverständlich. Aber nicht so, wie sie es im Moment tut.
Wie gehen Sie mit dem Dilemma um, dass Ihr sachlicher Widerspruch bei einem Gesetz zugleich das Ende der Regierung bedeuten kann?
Das bereitet mir fast körperliche Schmerzen. Ich habe innerlich mit mir zu kämpfen. Bei der Abstimmung über die Gesundheitsreform habe ich mich der Stimme enthalten. Ich war in der Sache skeptisch, habe aber auch eine Loyalität gegenüber der eigenen Fraktion und der Regierung empfunden.
Nicht alle Kritiker können sich bei jeder Abstimmung enthalten.
Und der Kanzler kann nicht jedesmal mit Rücktritt drohen. Das ist Nötigung. Mit dieser permanenten Vertrauensabstimmung sollen die Abgeordneten diszipliniert werden. Das lasse ich mit mir nicht machen.
Für Schröder steht mit diesen Reformen alles auf dem Spiel.
Tony Blair ist mit seiner Gesundheitsreform auf dem Labour-Parteitag gescheitert. Ich habe nicht gehört, dass er mit Rücktritt gedroht hätte.
Schröder braucht im Bundestag keine eigene Mehrheit?
Doch. Trotzdem kann die Devise nicht „alles oder nichts“ lauten. Die Abgeordneten müssen um Veränderungen der Gesetze kämpfen. Wenn nicht, kommen wir nur noch kurz zusammen, heben die Hand, gehen wieder nach Hause und halten ansonsten die Schnauze. Das ist dann wie in der DDR. Da können wir gleich Volkskammer spielen.
Das sagt ausgerechnet einer, der in der DDR Dissident war?
Das sagt einer, der die bittere Erfahrung macht, dass die Zahl der Dissidenten in jeder Gesellschaft offenbar gleich gering ist.
Warum wird ausgerechnet in so diskussionsfreudigen Parteien wie der SPD und den Grünen der intellektuelle Widerspruch so wenig geschätzt?
Das enttäuscht mich auch. Der Disziplinierungsdruck, der von der Regierungsverantwortung ausgeht, ist eben enorm. Da wird auch bei SPD und Grünen Geschlossenheit als Wert an sich gehandelt.
Stimmen Sie am 17. Oktober gegen die Hartz-Gesetze zur Reform des Arbeitsmarktes?
Das habe ich noch nicht entschieden.
Wovon hängt das ab?
Ob die Gesetze verbessert werden. Ich habe drei Einwände. Erstens: Wer künftig das so genannte Arbeitslosengeld II bekommt, muss seine Lebensversicherungen für das Alter behalten dürfen. Zweitens: Bei der Berechnung des neuen Arbeitslosengeldes darf es nicht zur Diskriminierung von Frauen kommen, deshalb soll das Einkommen das Ehepartners nur bedingt mit berechnet werden. Und drittens: Arbeitslose sollen keine Minijobs unter Sozialhilfeniveau annehmen müssen.
Die Regierung hat „Präzisierungen“ versprochen, keine grundlegenden Änderungen.
Ich habe versucht, eine Rangfolge der kritischen Fragen deutlich zu machen. Der erste Punkt ist mir der allerwichtigste. Wenn der nicht geändert wird, kann ich dem Hartz-IV-Gesetz unter keinen Umständen zustimmen.