Tödlicher Wirrwarr im Krisenstab

Der Terrorist Bassajew, der „Sklave Allahs“, soll Putin vier konkrete Forderungen übermittelt haben

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Neue, brisante Einzelheiten über die Geiselnahme in Beslan, bei der Anfang September über 350 Menschen getötet wurden, hat am Wochenende das Moskauer Boulevardblatt Moskowskij Komsomolez (MK) aufgedeckt. Verantwortlich für den Beitrag zeichnet Alexander Chinstein, ein wegen seiner Enthüllungsgeschichten gefürchteter Autor. Chinstein sitzt für die Kremlpartei „Vereinigtes Russland“ in der Duma und gehört dem parlamentarischen Sicherheitsausschuss an. 2003 verlieh Präsident Wladimir Putin Chinstein den Orden zweiten Ranges für „Verdienste um das Vaterland“.

Laut MK übergaben die Terroristen am zweiten Tag der Geiselnahme eine Forderungsliste, die von dem tschetschenischen Terroristen Schamil Bassajew unterzeichnet war. Bislang behauptete der Krisenstab in Beslan, die Terroristen hätten weder Forderungen gestellt, noch seien sie zu Gesprächen bereit gewesen.

Das Schreiben war an „Seine Exzellenz Präsident Putin“ adressiert und trug die Unterschrift Bassajews, der sich als „Sklave Allahs Schamil Bassajew“ bezeichnete. Vier Bedingungen stellte Russlands meistgesuchter Terrorist. Per Ukas sollte der Kremlchef den Krieg in Tschetschenien beenden und die Armee abziehen. Das unabhängige Tschetschenien würde als souveräner Staat der GUS beitreten und in der Rubelzone bleiben. über den Frieden sollten Blauhelme aus den GUS-Staaten in Tschetschenien und dem gesamten Nordkaukasus wachen.

Moskowskij Komsomolez beruft sich bei den Recherchen auf die Aussagen des ehemaligen Vizepräsidenten der Duma, Michail Gurzijew. Ihn hatte der nach der Darstellung des Blattes völlig handlungsunfähige und auch unwillige Krisenstab gebeten, die Vermittlung mit den Geiselnehmern zu übernehmen, obwohl Michail Gurzijew zurzeit kein politisches Amt ausübt. Er ist Privatmann und Chef der Ölgesellschaft „Rusneft“, soll aber früher bereits erfolgreich mit aufständischen Rebellen verhandelt haben und im Kaukasus hohes Ansehen genießen.

Die Aussagen Gurzijews zeigen nicht nur den Wirrwarr auf, der im Krisenstab geherrscht haben muss. Deutlich wird auch, dass die Verantwortlichen vornehmlich um sich selbst und ihre politische Karriere besorgt waren. Besonders der Präsident Nordossetiens. Alexander Dsasochow soll sich aus Furcht vor den Terroristen geweigert haben, ans Telefon zu gehen. Alle drei Stunden rapportierte er unterdessen Kremlchef Wladimir Putin.

Den Kontakt zu den Geiselnehmern stellte Gurzijew am frühen Donnerstagmorgen, dem zweiten September, einen Tag nach dem Beginn der Geiselnahme, her. Auf der anderen Seite meldete sich ein Mann mit Decknamen „Scheichu“. Der Terrorist verlangte, Alexander Dsasochow, der inguschetische Präsident Murat Sjiasikow, der Kinderarzt Leonid Roschal und Putins Tschetschenienbeauftragter Aslambek Aslachanow sollten zu Gesprächen in die Schule kommen. Außer Murat Sjiasikow, der am zweiten Tag seelenruhig im Moskauer Hotel Präsident aufgetrieben wurde, waren alle in Beslan anwesend. Keiner brachte indes den Mut auf, sich den Geiselnehmern zu stellen.

Gurzijew vermutet: Die Terroristen wollten alle vier Unterhändler auf der Stelle erschießen und damit offene Rechnungen begleichen. Dem Kinderarzt Roschal haben die Terroristen nicht verziehen, dass er nach Verhandlungen bei der Geiselnahme im Moskauer Nord-Ost Theater vor zwei Jahren dem russischen Geheimdienst Einzelheiten verraten und dies im Fernsehen auch noch offen zugegeben hatte. Die anderen drei verachten die radikaleren Kräfte im Kaukasus, weil sie sich vom Kreml haben kaufen lassen und Moskaus Feldzug in Tschetschenien nicht verurteilen.

Die Forderungen wollte „Scheichu“ nur in schriftlicher Form übergeben, zitiert der MK Gurzijew. Aber an wen jetzt? Gurzijew schlug den ehemaligen Präsidenten Inguschetiens, Ruslan Auschew vor. Der Kreml hatte den Afghanistankämpfer und General vor drei Jahren aus dem Amt gejagt und den willfährigen Geheimdienstmann Sjiasikow gegen den Willen der Inguschen zum Präsidenten gemacht. Die Terroristen willigten ein: „Soll kommen, wir garantieren ihm Sicherheit.“ Auschew, der sich noch in Moskau aufhielt, flog unverzüglich nach Beslan. Vor Ort wurde er von den Geiselnehmern nicht kontrolliert. Auschew nahm den Zettel mit Bassajews Bedingungen an sich. Eine halbe Stunde später verließen 26 Geiseln die Schule.

Die Forderungen wurden am Donnerstagmittag umgehend dem Kremlchef vorgetragen. Nordossetiens Präsident Dsasochow stand schließlich die ganze Zeit in direktem telefonischem Kontakt mit Wladimir Putin.

Zu Verhandlungen seien die Terroristen indes nicht bereit gewesen, meint Gurzijew. Das Angebot, 31 in Inguschetien inhaftierte Gesinnungsgenossen freizulassen, lehnte „Scheichu“ ab: „Ihr versteht nicht. Wir sind nicht gekommen, um zu feilschen oder eine Übereinkunft auszuhandeln. Entweder erreichen wir unser Ziel, oder wir sterben zusammen mit den Kindern“, gibt Gurzijew den Kontaktmann der Terroristen wieder.

Inzwischen sei klar, dass die Terroristen nach einem minutiös durchdachten Plan vorgegangen seien, meint Chinstein. Ihr Kalkül sei gewesen: Nach vier, spätestens fünf Tagen würden die Kinder ohne Wasser und Essen so geschwächt sein, dass sie langsam dahinsterben. Eine Erstürmung der Schule sei nicht möglich gewesen: auf der Straße herrschte zu viel Durcheinander. Tausende von Bewohnern Beslans hielten sich in unmittelbarer Nähe des Schulgebäudes auf. Sogar aus Südossetien waren paramilitärische Gruppen erschienen, die drohten, den Spezialeinheiten im Falle eines Sturms in den Rücken zu fallen. Dessen seien sich die Geiselnehmer durchaus bewusst gewesen.

Der Kreml sah sich vor der Wahl, entweder auf die Forderungen einzugehen oder die Kinder dem Tod auszuliefern. Zunächst schlug der Krisenstab vor, den Geiselnehmern den Erlass eines Ukas zur Beendigung des Kriegs in Tschetschenien vorzutäuschen, will MK erfahren haben. Die Idee wurde aber verworfen, da die Terroristen sicherlich verlangt hätten, den Erlass auch in den Medien zu verlesen.

In ihrer Not versuchten Dsasochow und Auschew den verjagten gewählten tschetschenischen Präsidenten, Aslan Maschadow, über seinen Sprecher in London einzuschalten. Dies gelang. Maschadow sagte zu – gegen die Garantie, nicht vom russischen Geheimdienst angepeilt zu werden. Offenbar fürchtete er, einem ähnlichen Anschlag wie Tschetscheniens erster Präsident Dudajew zum Opfer zu fallen. Dieser war beim Telefonieren mit einem Satellitentelefon durch ein ferngesteuertes Geschoss getötet worden.

Doch statt etwas zu unternehmen, wurde die Entscheidung auf Freitag, den 3. September, verschoben. Das war zu spät. Mittags explodierte in der Turnhalle der Schule eine Bombe, die an einer Schnur mit einem Klebeband befestigt worden war, das sich durch Feuchtigkeit und Hitze gelöst haben soll. Die Terroristen gerieten in Panik und zündeten weitere Sprengsätze. Daraufhin eröffneten die bewaffneten Bürgermilizen unkontrolliertes Feuer auf die Schule.

Unterdessen wütete draußen auf der Straße eine rasende Menge, die den Soldaten des Innenministeriums Maschinenpistolen aus den Händen gerissen haben soll. Dieses Szenario deckt sich mit Berichten von Augenzeugen und Geiseln in den letzten Tagen.

Nach Angaben des MK sind die fliehenden Kinder nicht – wie der Krisenstab behauptet – hinterrücks von den Terroristen erschossen worden. Sie wurden Opfer eines wilden Kreuzfeuers, weil der Krisenstab nicht für Ordnung sorgen konnte.

„Ihr habt uns betrogen und seid ab jetzt für alles verantwortlich“, waren die letzten Worte Scheichus. Während auf der Straße hunderte starben, lief Nordossetiens Präsident Dsasochow im Stab auf und ab: „Das ist mein Ende, ich bin eine politische Leiche“. Dsasochow hat bislang auch als Präsident überlebt.