Eine deutsche Reise

Gerd Koenen wollte die linke Opferikone Bernward Vesper demaskieren – doch dann hat es ihm die ideologiekritische Sprache verschlagen. So schrieb er ein 68er-Buch, in dem wirklich was Neues steht

In den Briefen aus dem Knast erscheint Ensslin als liebende, besorgte Mutter

von STEFAN REINECKE

Bernward Vesper ist der Sohn eines Nazidichters. 1962 lernt er eine moralische, intelligente Pfarrerstochter kennen. Sie heißt Gudrun Ensslin. 1967 wird ihr gemeinsamer Sohn Felix geboren, doch ihre Beziehung zerbricht. 1968, nur drei Jahre nachdem sie Wahlkampf für Willy Brandt gemacht hat, zündet die nun linksradikale Ensslin in Frankfurt ein Kaufhaus an. 1970 gründet sie die RAF und geht mit Andreas Baader in den Untergrund. Vesper, der sich nie wirklich von ihr löst, versucht mit ihrer 12-jährigen Schwester eine Beziehung anzufangen. Er nimmt LSD und schreibt an einem Roman, ist Aktivist der Bewegung und linker Verleger. Und er will ein guter Vater sein. Die Zeit rast. Bernward entkommt dem Bann seines Nazivatermonstrums nicht –und bringt sich 1971 um.

Eine unwahrscheinliche Geschichte. So klingen Plots, die sich verzweifelte Drehbuchautoren ausdenken, die mangelnde Originalität durch ein Übermaß an Bedeutung wettmachen wollen. Aber so war es. War es so?

Bernward Vespers Romanfragment „Die Reise“ ist in die Literatur- und Mentalitätsgeschichte der Republik eingegangen. Es gilt als Beweisstück dafür, dass die linke Militanz der späten 60er-Jahre Teil eines deutschen Familienromans war – die Revolte als missglückter ödipaler Aufstand. Vespers Biografie hatte etwas Idealtypisches: Es war ja kein Zufall, dass die linke Gewalt nach 1968 in den Ex-Achsenmächten Deutschland, Italien und Japan besonders brutal war und in den USA und Frankreich vergleichsweise randständig blieb. „1968“ war auch ein Aufstand gegen die Nazi-Eltern – und Bernward Vesper war die Biografie zur These. Sein Leben und Sterben war der Beweis, dass die verschwiegene Schuld der Eltern nicht einfach verschwindet, sondern dass die Gewalt im Leben der Kinder weiterspukt. War der kollektive Selbstmord in Stammheim 1977 nicht ein fernes Echo des Selbstmordes im Führerbunker 1945?

Das ist die große Erzählung. Vespers Leben illustriert darin wie kein zweites in den 60er-Jahren die Nachtseite der bundesdeutschen Aufstiegsgeschichte. Es zeigt den Abgrund hinter der Legende von der Stunde null, dem Wirtschaftswunder und der freundlichen bundesrepublikanischen Demokratie. Es ist eine Geschichte der kaputten Hybris der 68er, ihrer Selbstermächtigung und der Entgrenzung mit Sex und Drogen, die an den Rand der Selbstzerstörung führten und manchmal eben darüber hinaus.

Gerd Koenen, dem Exmaoisten und erprobten Kritiker der 68er-Linken, haben Vespers und Ensslins Verwandte überraschend offenherzig allerlei intime Briefe zur Verfügung gestellt. Im Zentrum stehen daher Vesper und Ensslin hier weniger als politische Akteure von 1968, in den Fokus rücken ihre Vorgeschichte und das Beziehungsdrama zwischen Ensslin, Vesper, ihrem kleinen Sohn Felix und Baader. Das Bild, das so entsteht, weicht nicht grundsätzlich von dem Bekannten ab, aber es ist viel facettenreicher, komplexer, genauer. Es zeigt, dass Bernward in den 50ern Part der deutschtümelnden Nationalkonservativen um Hans Grimm („Volk ohne Raum“) war, ein von sich selbst überzeugter Jungdichter, der unverdrossen Briefe an Albert Schweitzer und Nasser schrieb. In „Die Reise“, dessen schonungslose Offenheit allseits gerühmt wurde, fehlt dies ebenso wie sein Versuch, Gudruns minderjähriger Schwester 1969 nachzustellen. Vesper ist bei Koenen nicht nur der verstoßene, verzweifelte, revoltierende Sohn, sondern ein ehrgeiziger Literat, der den Auftrag seines Vaters, erfolgreich zu sein, ausführen will.

In den frühen 60ern schreibt er unter Pseudonym in rechten Blättern, mit Gerhard Frey streitet er, wie eine moderne Rechte aussehen soll. Dass Vesper und Ensslin Mitte der 60er gleichzeitig Will Vespers trübe Natur- und Heimatlyrik in NPD-Zeitungen annoncieren und ein Bändchen gegen Atomwaffen herausgeben, gilt Koenen als Beweis für „die Verwandtschaft der linken und rechten Motive des Protestes“. Wirklich? Ist dies nicht eher Vespers verzweifelter Versuch, dem toten Vater treu zu bleiben und gleichzeitig erfolgreich auf eigenen Beinen zu stehen?

„Alle Reminiszenzen an diese Jahre“, schreibt Koenen allerdings weiter, „sind so überformt oder deformiert durch die Bleigewichte des Wissens über alles, was später geschah.“ Das ist ein kluger Satz – und zum Glück beherzigt das Buch diese Erkenntnis weitgehend und bleibt entsprechend sparsam mit nachträglichen Großraum-Interpretationen. Koenen gelingt vor allem anhand der Briefe von Vesper und Ensslin unseren Blick freizuräumen. In diesen Briefen erscheint Ensslin, die seit 1968 im Knast sitzt, als liebende, besorgte Mutter. Bis 1969, kurz bevor sie die RAF mit begründet und alle Brücken zur bürgerlichen Welt sprengt, überlegt sie, ob sie Felix zu sich nehmen kann. Es ist ein Kampf gegen sich, eine schmerzhafte Selbstunterdrückung, die ihren stählernen Kommandoton in den RAF-Infos später in anderem Licht erscheinen lassen: als Ausdruck der Zerstörung nach einer Selbstzerstörung.

So verteidigt dieses Buch Ensslin wie Vesper (Baader, der recht blass bleibt, weniger) gegen die fest ins kollektive Bewusstsein gefrästen Bilder, gegen das Zuviel an Interpretation und Wissen um Nazi-Eltern-68-RAF-Befreiung-Tod. Das ist die Leistung dieses Buches. Es mündet in keine spektakuläre, neue These. Doch Koenen gelingt es, diese in Bedeutung fixierte Figuren in Menschen zurückzuverwandeln, die Möglichkeiten hatten. Es verwandelt die ikonisch gewordenen Figuren Vesper, Ensslin und Baader in das Personal einer lebendigen Erzählung, es löst das Starre in Fließendes auf.

Vespers Schwester etwa, so erfahren wir, hat den Vater keineswegs als faschistisches Monster in Erinnerung, sondern als eitlen alten Mann, der schnell vor Rührung und Verbitterung weint. Das dementiert Bernward Vespers neurotische Vaterfixierung nicht, aber es zeigt, dass andere Blicke möglich waren. In diesen Details und Perspektivwechseln werden Vesper und Ensslin kleiner, individueller, menschlicher. Es befreit sie aus dem Gefängnis des Repräsentativen.

So scheint im Verlauf des Textes auch dem 68er-Kritiker Koenen mehr und mehr das Interesse an gesinnungsfesten Urteilen abhanden gekommen zu sein. Er verwandelt sich in einen Erzähler, einen Kommentator, der distanziert, wie es sich gehört, aber auch mit Mitgefühl auf seine unglücklichen Helden schaut. „Am Ende dieser Reise bin ich meinen problematischen Helden sehr viel näher gekommen, als ich eigentlich gewollt hatte“, schreibt er im Nachwort. Man darf ihn sich wohl als jemanden vorstellen, der mit dem Wunsch ans Werk ging, die linke Opferikone Bernward Vesper gehörig zu demaskieren, und dem es, je mehr er sich in den Rosenkrieg zwischen Vesper und Ensslin und den quälenden Kampf um das Kind vertiefte, die ideologiekritische Sprache verschlagen hat. Mag sein, dass manchem die griffigen Thesen, die Koenen in seinem 68er-Bashing-Buch „Das rote Jahrzehnt“ ausbreitete, fehlen. Genau dieser Mangel ist die Stärke von „Vesper, Ensslin, Baader“.

Gerd Koenen: „Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 368 Seiten, 22,90 €