: Auf Konstantin Paustowskis Spuren
Erst die Dichter, dann die großen Bewässerungssysteme, schließlich die Tyrannei: Der holländische Journalist Frank Westerman ist kreuz und quer durch die einstige Sowjetunion gefahren und hat mit „Ingenieure der Seele“ eines der seit Jahren besten und informativsten Bücher über Russland geschrieben
von WLADIMIR KAMINER
Schon früher waren es überwiegend holländische Journalisten, die in der Sowjetunion mit einem Fotoapparat und Diktiergerät an den unmöglichsten Stellen auftauchten. Ob bei einem Rockfestival im Wald bei Moskau, auf einem Hippie-Zeltplatz bei Riga, sogar in der russischen Sauna – überall traf man Holländer, die mit einem Wörterbuch in der Hand die Geheimnisse des russischen Lebens zu durchleuchten versuchten. Nichts entging ihnen. Warum die Russen ihre Teppiche nicht auf den Boden legen, sondern an die Wand nageln, wieso sie Spinnen für heilige Tiere und Glücksbringer halten und weswegen sie ausgerechnet Papirossy der Marke „Belomorkanal“ rauchen. Neugierig durchforsteten sie das Land und versuchten mit den Einheimischen ins Gespräch zu kommen: „Warum heißt diese Seife ‚Wo Lenin überall hinkam‘?“ „Darum“, wehrten sich die Russen, es interessierte sie nicht, sie wollten lieber in Ruhe gelassen werden.
Die Holländer ließen aber nicht locker und kamen tatsächlich manchem Geheimnis auf die Spur. Dies gilt besonders für Frank Westerman, dessen Sachbuch „Ingenieure der Seele“ sich wie ein Krimi liest. Man hatte ihn als Korrespondenten einer Rotterdamer Wirtschaftszeitung nach Moskau geschickt. Dort bezog Westerman eines der vielen Büros in einem Hochhaus am Platz der Proletarier, das für ausländische Journalisten reserviert war. Tag für Tag starrte er dort auf ein tschechisches Faxgerät, manchmal auch nach draußen auf eine leere Baugrube. Westerman kaufte also in einer Metro-Unterführung von einem arbeitslosen Geologen vier aufrollbare Karten der Sowjetunion, hängte sie an die Wand seines Büros und studierte sie.
In den Achzigern hatte er sich mit Hydrotechnik beschäftigt. Dabei lernte er das Werk des deutschen Sinologen Karl August Wittfogel kennen, der in den Dreißigerjahren von den Nazis geflüchtet war und sein Hauptwerk, „Die orientalische Despotie“, 1957 in New York veröffentlicht hatte. Darin vertrat Wittfogel die These, dass tyrannische Regime nur dort entstehen können, wo der Boden und das Klima zum Bau großer Bewässerungsanlagen geeignet sind – und dass umgekehrt jedes große Bewässerungssystem zur Tyrannei führt.
Westerman beschließt, mit dieser These drei grandiose Bewässerungsprojekte der Sowjetunion zu untersuchen: den Belomorkanal, der das Weiße Meer und die Ostsee miteinander verbindet, den Leninkanal in Turkmenistan, der ins Kaspische Meer führt, und den Wolga-Don-Kanal, der die beiden größten Flüsse Russlands zusammenführt.
Zunächst widmet Westerman sich dem Lebenswerk einiger sowjetischer Schriftsteller wie Gorki, Paustowski und Platonow und kommt zu dem Ergebnis, dass diese „Ingenieure der Seele“ die Bevölkerung im Auftrag Stalins zum Bau der großen Bewässerungssysteme bewegt haben. Den Anfang machte Gorki, der mit seinem Belomorkanal-Buch, einer kollektiven Arbeit von 120 Schriftstellern, ein Musterbeispiel für die damals geförderte proletarische Literatur schuf. Westerman kann das Buch in Moskau nicht auftreiben, ergattert aber eine Ausgabe bei einem Online-Antiquar in Kalifornien. Im Buch steht eine Widmung: „Xmas 1936. A merry christmas to Polly and Clayt. Dorothy“.
Wer war Dorothy? Diese Frage bringt Westerman dazu, sich nebenbei auch noch mit den damaligen Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion zu beschäftigen. Dann liest er die Bewässerungsromane von Paustowski, die nicht viele Russen gelesen haben: „Kara-Bugas“ und „Die Wolga fließt ins Kaspische Meer“. „Nomaden!“, schrieb Paustowski, „brecht eure Zelte ab. Stoppt eure Wanderungen durch dir tote Wüste und werdet endlich Arbeiter!“
Je mehr Westerman sich in die Recherche vertieft, umso unübersichtlicher werden seine Ergebnisse, die immer neue Fragen aufwerfen, statt Antworten zu geben. Also wird der Holländer selbst zu einem Nomaden, er verlässt sein Büro am Platz der Proletarier und fährt kreuz und quer durch die ehemalige Sowjetunion. Er brettert mit einem Motorrad über die Insel Solowki, studiert dort alte Klostersitten und sowjetische Folterkammern. Als er sich eine kluge Bemerkung über ein Vorzeigelager erlaubt, wird er vom Reiseführer als „ihr Deutsche“ beschimpft, „die ja auch nicht nur Schiller und Goethe hervorgebracht haben!“. Obwohl Westerman gar kein Deutscher ist, hält er sich zurück.
Er fährt nach Karelien, auf den Spuren der Belomorkanal-Schriftstellergruppe und recherchiert, warum die sibirischen Ringelgänse, die sonst jeden Winter von Nowaja Semlja über die Seen Kareliens, den finnischen Meerbusen und Dänemark nach Holland geflogen waren, in der Zeit des Kanalbaus fernblieben. Die Bekanntschaft mit einem karelischen Jagdverein bringt ihn auf die Idee, dass die vielen Gefangenen, die am Bau des Kanals beteiligt waren, die Gänse wahrscheinlich gefangen und gegessen haben.
Parallel dazu untersucht Westerman den sozialistischen Realismus, trifft sich mit den Nachfahren berühmter sowjetischer Schriftsteller und besichtigt Gorkis Hirn, das in einem Einweckglas im Institut für Neurologie scheibchenweise auf Spuren von Genialität untersucht wird. Mal mit Dollars, mal nur mit einem Lächeln kommt Westerman in versteckte Archive rein, sieht sich verbotene Filme an, die noch niemand bisher sah, und liest Bücher, die vor ihm nur uniformierte Leser hatten. Zwischendurch fährt er immer wieder nach Turkmenistan ins Reich des Turkmenbaschi, besucht den gescheiterten sowjetischen Kanaltraum in der Bucht Kara-Bugas, beschäftigt sich mit turkmenischer Kosmetik und klärt sich und uns darüber auf, warum die Flamingos so rosig sind.
Er teilt seine Erkenntnisse gern mit den Einheimischen, zeigt ihnen Bücher ihrer Schriftsteller und andere Zeitdokumente, fragt sie über die revolutionären Ideale der sowjetischen Vergangenheit aus und über die konterrevolutionären Ideen der russischen Gegenwart. „Ah ja“, winken die Russen ab, „wir wollen vor allem unsere Ruhe, ein Häuschen im Grünen, frisches Obst.“ Auch das recherchiert Westerman sogleich: Warum keine Radieschen? „Alle Russen träumen vom Landleben“, schreibt er.
Ob er alles richtig verstanden hat? Dafür möchte ich meine Hand nicht ins Feuer legen. Auf alle Fälle hat Westerman eine Reise voller Abenteuer und Gefahren bestanden, viele dunkle Flecken auf der sowjetischen Landkarte beseitigt und das beste Buch über Russland geschrieben, das ich seit Jahren gelesen habe. Noch zwei, drei solche Holländer, und die russische Geschichte wird neu geschrieben.
Frank Westerman: „Ingenieure der Seele. Schriftsteller unter Stalin – eine Erkundungsreise“, Ch. Links Verlag, Berlin 2003, 280 Seiten, 19,90 €