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Archiv-Artikel

„Der Homo sowjeticus lebt weiter“

Russlands renommierter Meinungsforscher Juri Lewada zeichnet ein ernüchterndes Bild über Politik und Gesellschaft unter Präsident Wladimir Putin. Demokratische Werte hätten in der Bevölkerung keinen größen Rückhalt

taz: Die Regierung hat das zuvor von Ihnen geleitete Meinungsforschungsinstitut WZIOM unter andere Leitung stellen lassen. Ist das ein weiterer Anschlag auf die Meinungsfreiheit unter Putin?

Juri Lewada: Dass unsere Ergebnisse den gewünschten Loyalitätsbonus vermissen lassen, wurde uns schon länger bedeutet. Juristisch waren wir dem Arbeitsministerium unterstellt, das uns aber finanziell nicht unterstützte. Wir haben auch jetzt dem Druck nicht nachgegeben, sondern mit dem WZIOM-A – A für Analyse – ein neues Institut gegründet. Wir sind auf die inzwischen übliche Weise – indem politische Motive als wirtschaftliche Differenzen ausgegeben werden – abgewickelt worden. Das Institut wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und keiner der alten Mitarbeiter in den Vorstand berufen.

Reicht eine Namensänderung, damit man Sie weiter arbeiten lässt?

Militärs, Geheimdienstler und Bürokaten sind dabei, die Macht wieder an sich zu reißen. Wie es mit uns weitergeht, bleibt offen. Unsere Kaltstellung ist eine Sicherheitsmaßnahme, um Überraschungen zu vermeiden.

Warum fürchtet der Kreml die Umfrageergebnisse, Putin hat doch weiter komfortable Mehrheiten?

Der Kreml reagiert sehr nervös auf Stimmungsschwankungen. Ein Prozent weniger Zustimmung für den Präsidenten oder für die ihn stützende Partei versetzt ihn in Unruhe. Sie können es nicht hinnehmen, dass die Kommunisten mehr Zuspruch erhalten als die Kremlpartei. Das deutet auf einen Mangel an Selbstbewusstsein und tiefe Verunsicherung. Sie fürchten eine Palastrevolution und brauchen ständig Beifall. Dabei stimmen noch immer 74 Prozent für den Präsidenten, früher waren es aber noch mehr. Volles Vertrauen äußern 16 Prozent, in Verzückung geraten gerade mal 5 Prozent.

Sie waren schon in der Sowjetunion Dissident, erleben Sie nun nach 15 Jahren freien Forschens ein Déjà-vu?

Wir haben uns auch in der jüngeren Vergangenheit keinen Illusionen hingegeben, die Analysen boten dazu wenig Anlass. Die Mentalität vor allem der politischen Elite unterlag kaum einem messbaren Wandel.

Vom Homo sowjeticus zum Homo putinicus soll sich nichts verändert haben?

Es gibt den Homo putinicus nicht. Der Homo sowjeticus lebt weiter, er hat sich nur den äußeren Bedingungen des Marktes und der Warenwelt angepasst, und dies gar nicht schlecht. Er reist auch gern ins Ausland, mancher schätzt gar die Meinungsfreiheit, einsetzen würde er sich dafür aber nicht. Demokratie war ein Geschenk von oben, sie wurde nicht erkämpft. Der Russe ist Vorgesetzten gegenüber unterwürfig und hat nicht viel für demokratische Werte übrig.

Putins so genannte „gelenkte Demokratie“ entspricht also dem Weltbild der Mehrheit?

„Gelenkte Demokratie“ hat sich als Charakterisierung der Putin-Ära eingebürgert. Ich halte den Begriff für nicht zutreffend: Weder ist Russland eine Demokratie, noch wird es sicher gelenkt. Wir haben es auch nicht mit einem neuen „sastoj“ – Stillstand – zu tun, der die Breschnew-Zeit kennzeichnete. Die innere und äußere Sicherheit des damaligen Systems, dessen Strukturen Stabilität und Balance garantierten, fehlen zurzeit. Der jetzige Stillstand ist eine Imitation. Solchen nach außen ruhigen Zeiten folgte in Russland immer eine Phase der Verwerfungen, in der das System von innen heraus zerfiel. Die regierenden Eliten haben sich gegenseitig zerfleischt und die Kontrolle verloren. Diese Gefahr sehe ich auch jetzt. Schon jetzt ist die wichtigste Frage im Umfeld der Macht: Wer übernimmt nach Putin 2008 das Ruder? Die politische Elite hat keine Vorstellungen, was zu tun ist. Sie ist auf den Sesseln gelandet dank ihrer persönlichen Verbindungen zu Putin und den Geheimdienststrukturen. Nach den Wahlen wird die Stimmung der Bürger kippen.

Ist Russland wieder auf dem politischen Holzweg ?

Nur äußerlich gleicht das Land immer mehr dem Westen. Doch die herrschende Elite möchte das Land nach dem Modell Chinas vorantreiben. Dazu fehlen aber die Voraussetzungen, denn die Chinesen haben nicht nur ungeheure Kraft, in der Gesellschaft wirkt auch noch Angst. Wer aber fürchtet bei uns die herrschende Elite? Unsere Politiker geben sich aber wie die Chinesen: Fordert von mir keine Demokratie oder Menschenrechte, nehmt mich, wie ich bin. In welcher Demokratie wäre es sonst noch denkbar, dass regierende Politiker nicht nur Träger rechtsradikaler Ideologien sind, sondern diese mit Duldung des Kreml auch ungestraft umsetzen können? Ich bin enttäuscht, weil der Westen so tut, als sähe er nicht, was er sieht. Gerhard Schröder ist da noch gefälliger als George W. Bush.

INTERVIEW: KLAUS-HELGE DONATH