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Hat Horst Köhler Recht?

JA

Man sollte die sozialen und ökonomischen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland akzeptieren. Denn in den kommenden Jahrzehnten werden sie kaum geringer.

Humanisten, Linke und Linksliberale fordern seit mehr als zwanzig Jahren, die Politik solle eine schlichte Wahrheit anerkennen: Deutschland sei ein Einwanderungsland, das sich nicht gegen die Wanderungsbewegungen auf dieser Welt abschotten dürfe. Genauso lange winden sich die Konservativen im Versuch, die Realität zu verleugnen. Hoffentlich geben sie bald auf.

Vergleichbar, allerdings mit vertauschten Rollen, könnte die Debatte über die sozialen Unterschiede zwischen Ost und West verlaufen. Diejenigen, die sich für aufgeklärt halten, verteidigen die moralische Position des Grundgesetzes, „gleichwertige Lebensverhältnisse“ herzustellen. Wer sein Ohr eher am Puls der Wirtschaft zu haben meint, stellt diesen Anspruch in Frage – und dürfte Recht behalten.

Wir leben in einer Wachstumsgesellschaft, der das Wachstum ausgeht. Deshalb kann das Modell des sozialen Ausgleichs zwischen Kapital und Arbeit – entwickelt in der Sondersituation nach dem Zweiten Weltkrieg und finanziert aus regelmäßigem Wohlstandszuwachs – nicht mehr funktionieren. Niemand glaubt an Steigerungsraten, die langfristig über zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen. Weil die erhöhte Produktivität gleichzeitig Stellen kostet, wird kein einziger zusätzlicher Job entstehen – weder in Westdeutschland, noch in Ostdeutschland. Nicht schön, aber wahr: Wo die Arbeitslosigkeit heute bei 30 Prozent liegt, wird sie in zehn Jahren mit viel Glück auf 20 Prozent gesunken sein. Allerdings nicht, weil Firmen Beschäftigte eingestellt haben, sondern weil die Arbeitskräfte in die prosperierenden Gegenden wie Leipzig, Dresden, Berlin oder auch Freiburg und Starnberg abgewandert sind. Und weil durch den Alterungsprozess die Zahl der Beschäftigten zurückgeht.

Armenhäuser bleiben Armenhäuser – mit Ausnahmen. Denn es wird zu einer stärkeren Polarisierung nicht nur zwischen den sozialen Schichten, sondern auch den Regionen kommen. Manche Städte und Landstriche, die heute noch auf der Kippe stehen, haben dabei die Chance des Aufstiegs. Andere werden absinken. Auch dies ist eine Folge der geringen Wachstumsraten bei gleichzeitiger Verschärfung des Machtgefälles zwischen Kapital und Arbeit infolge der Globalisierung. Während der Verteilungsspielraum beim alljährlichen Wohlstandsgewinn geringer geworden ist, gelingt es Konzernen, Investmentfonds und wohlhabenden Privatleuten, einen relativ größeren Teil als früher für sich zu beanspruchen. Größere Armut trifft auf zunehmenden Reichtum. Das kann man bedauern, einen Weg, es grundsätzlich zu ändern, hat bisher niemand gefunden.

Auf der Ebene der Beschreibung zieht Bundespräsident Köhler die richtigen Schlüsse. Dass er den Prozess der sozialen Differenzierung nicht nur akzeptieren, sondern auch befördern will, kann man erstens unterstellen und muss man zweitens nicht teilen. Deutschland kann sich auch weiterhin die rund 100 Milliarden Euro leisten, die jährlich vom Westen in den Osten fließen. An diesen Subventionen geht der Sozialstaat nicht zugrunde – und im Interesse des sozialen Friedens spricht auch einiges dafür, sie weiterhin zu zahlen.

Allerdings bleiben die Lebensverhältnisse ungleich – trotz des ganzen Geldes. Das zeigt die Erfahrung der vergangenen 15 Jahre. Ja, es gibt eine gewisse Annäherung, man findet eine Raffinerie in Leuna und eine Autofabrik in Eisenach, dazwischen aber rotten die LPG-Ruinen, und der Wald holt sie sich zurück.

Ökonomie und politische Moral sind zwei Paar Schuhe. Die erste beschreiben Wissenschaftler, die zweite steht im Grundgesetz. Dort soll sie auch bleiben und nicht etwa getilgt werden, wie man es Köhler unterstellen mag. Nur gilt es festzuhalten, dass die Verfassung eine Wunschvorstellung beschreibt, auf die hinzustreben sich lohnt, wenn sie auch kaum zu erreichen ist. Der universelle Anspruch auf Gleichheit und Gerechtigkeit macht die kleinen Fortschritte erst möglich – sonst gäbe es sie nicht.

Hinweis: HANNES KOCH, 42, ist taz-Wirtschaftsredakteur mit den Schwerpunkten Finanzpolitik und Globalisierung.

NEIN

Aus Europa kennen wir diverse Erfolgsgeschichten, in denen Subventionen durchaus eine Angleichung der Lebensverhältnisse bewirkt haben.

Selbst das Negativbeispiel Süditalien taugt nicht als Beleg dafür, dass „Subventionitis“ bloß Schulden produziere, aber keine Entwicklung in Gang setze. Was ist etwa mit den EU-Strukturfonds? Kann man ernsthaft abstreiten, dass Spanien, Portugal und vorneweg Irland in den letzten Jahrzehnten einen riesigen Sprung nach vorn gemacht haben? Und kann man abstreiten, dass die EU-Milliarden, die in Infrastruktur und die Förderung von Unternehmensansiedlungen flossen, dabei keine Rolle spielten? Niemand behauptet doch, dass die Spanier oder die Iren es sich in der Subventions-Hängematte bequem gemacht hätten. Wachstumsziffern, sinkende Arbeitslosenraten, steigende Einkommen belegen das Gegenteil.

Keiner aber redet heute von den nicht mehr ganz „neuen Ländern“ als einem möglichen Irland. So gut wie allen, auch dem Bundespräsidenten, fällt stattdessen ein, dass wir da wohl eher einen „deutschen Mezzogiorno“ im Osten haben. Kurz: ein Milliardengrab. Jahr für Jahr flossen seit den frühen Fünfzigern Unsummen in den italienischen Süden, und das Resultat ist auf den ersten Blick wirklich deprimierend. Die Arbeitslosenquote pendelt dort noch heute mit 20 bis 25 Prozent auf dem Niveau der Uckermark, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt gar bis zu 60 Prozent. Und Regionen, die immerhin 36 Prozent der italienischen Bevölkerung stellen, tragen gerade mal 15 Prozent zur Wertschöpfung der Fertigungsindustrie bei, mit nur 10 zu den Exporten. Viel schlechter waren die Werte vor 50 Jahren auch nicht. Und wie schon damals erwirtschaften und verdienen die Süditaliener 35 Prozent weniger als die Menschen in Nord- und Mittelitalien. Derweil trugen die Südsubventionen kräftig dazu bei, dass Italien auf der EU-Schuldenliste den Spitzenplatz beansprucht: Das Land steht mit 106 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts ganz tief in der Kreide. Da kann Herr Köhler sich wunderbar bestätigt fühlen. Kann er das wirklich? Ein paar Gegenfragen sind erlaubt.

Erstens: Was wäre aus Süditalien geworden, wenn die Milliarden nicht geflossen wären? Landstriche, in denen noch vor Jahrzehnten die meisten Dörfer in archaischen Verhältnissen lebten – ohne Strom, fließendes Wasser, Telefon und Verkehrsanbindung –, haben infrastrukturell einen enormen Sprung nach vorn vollzogen. Gewiss: Die Süditaliener sind immer noch ärmer, aber wenigstens hat sich die Schere zum Norden nicht weiter geöffnet.

Zweitens: Was wäre erst recht aus Süditalien geworden, wenn Roms Politik dort tatsächlich Entwicklung angeschoben hätte, statt vorwiegend Klientelnetzwerke und dazu noch die Mafia zu finanzieren? Schuld am bleibenden Entwicklungsdefizit des Mezzogiorno haben doch nicht die Staatsmilliarden, sondern die Tatsache, dass es in Rom, Palermo oder Neapel den Politikern herzlich egal war, was mit dem Geld passierte. So als hätten sie alle Keynes gelesen – Einkommen kann man auch schaffen, indem man ein Loch graben und es dann wieder zuschütten lässt –, fragten sie erst gar nicht, ob das gerade finanzierte Projekt Sinn machte. Im ganzen Süden kann man heute Investitionsruinen besichtigen: Brücken ohne Straßenanbindung; Straßen, die im Nichts enden, selbst Schiffswerften im Bergland. Die Projekte hatten ihre Logik: Sie bereicherten befreundete Unternehmer und schufen Arbeit für die Wähler – das war’s dann auch. So wurden politische Loyalitäten geschaffen statt Entwicklung – und so wurden als dritte, vermittelnde Partner im Geschäft zwischen Politikern und Wählern auch die Mafiosi in Sizilien, Kalabrien und Kampanien versorgt.

Und drittens schließlich: Hätte es ohne die Milliarden-Subventionen die mittlerweile zahlreichen Entwicklungskerne im Mezzogiorno je gegeben? Es stimmt ja gar nicht, dass „der Süden“ Italiens sich nicht entwickelt habe. Die gesamte Adriaküste von den Abruzzen bis hinunter nach Apulien, aber auch die Basilikata, selbst das sizilianische Catania sind heute Standorte florierender Unternehmen, aus der Möbel- oder der Mode- genauso wie aus der Computerbranche.

Hinweis: MICHAEL BRAUN, 46, ist Italien-Korrespondent der taz.

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