: „Das ist viel Arbeit und Ausbeutung“
Bei der Montagsdemo schickt Protestforscher Dieter Rucht Interviewer los. Die bekommen dafür nicht mal einen Euro
Auf die richtige Auswahl kommt es an, das wissen wir spätestens, seit Deutschland im TV den Superstar sucht. Zurzeit sucht Deutschland außerdem den Prototyp des Montagsdemonstranten, wenigstens ein kleiner Teil Deutschlands. Dieter Rucht etwa – mit seinem Team vom Wissenschaftszentrum Berlin. Rucht ist Protestforscher. Es sind gute Zeiten für Protestforscher. Es gibt massenhaft zu erforschen. 2003 gegen den Irakkrieg, dann 2004 gegen Hartz. In Berlin dazu jährlich den 1. Mai gratis obendrauf.
Bei den Hartz-Protesten hat Rucht lange gezögert. „Das ist einfach mit viel Arbeit und Ausbeutung verbunden“, sagt er. Hartz eben, natürlich, könnte einer der Montagsdemonstranten nun erwidern. Aber Rucht meint seine Interviewer, die durch die Demo ziehen und die Untersuchungsobjekte fragen, was sie hier wollen, was sie wählen, was sie wissen. Über Hartz IV etwa. Sie tun das ohne Entlohnung. Manche aus rein wissenschaftlichem Interesse. Das erzählt man hier besser keinem, während über Lautsprecher die „Ein-Euro-Prostitution“ gegeißelt wird.
Auf die Auswahl kommt es also an, auch beim Protestforschen. „Absolut wichtig: ein Zufallsprinzip realisieren“, erklärt Rucht den 24 Interviewern, die letzte Instruktionen entgegennehmen. Das Zufallsprinzip entsteht nicht etwa durch Abzählreime. Man geht los und fragt etwa „immer wieder die rechts stehende Person“ – geografisch, nicht politisch betrachtet. Man geht dagegen auf keinen Fall los und fragt nur Studenten, weil die nett aussehen, oder nur Frauen, weil man selbst eine ist.
Das Zufallsprinzip entsteht auch durch Planung. „Es werden vier Gruppen eingeteilt, die völlig autonom operieren“, sagt Dieter Rucht. „Jede Gruppe muss das Einteilungsprinzip des zuständigen Koordinators übernehmen.“ Wäre er nicht so zivil angezogen, man könnte meinen, er leite einen Polizeieinsatz oder er schicke gerade nicht Forscher ins Feld, sondern Soldaten in die Schlacht. „Was ist mit Verweigerern?“ fragt eine Koordinatorin. Rucht sagt nicht: „Verweigerer werden standrechtlich erschossen.“ Er sagt nur, dass man das am besten notiert, wenn jemand nicht will. Er schließt mit einer Warnung: „Es gibt auch Leute, die wollen ihre Lebensgeschichte erzählen, da müsst ihr aufpassen.“
Das ist leicht gesagt. Aber wie passt man da auf? Was macht man, wenn der Rentner in der hellblauen Jacke, mit der Bratwurst in der Hand und dem Senffleck auf der Backe, souverän das Fassungsvermögen der vorgegebenen Antwortkategorien sprengt? Ob er SPD wählen würde? Also, wenn die Führung gestürzt würde, wenn der Lafontaine dran käme, könnte er sich das überlegen, sächselt der Mann. „Gehen wir mal davon aus, es bleibt wie jetzt“, schlägt der Interviewer vor. Er sagt auch oft: „Gut, kommen wir noch mal zurück zur Frage.“ „Sagen wir: ja“, sagt der Rentner einmal. „Aber sie kennen meine Bedenken.“
Nicht nur die kennt der junge Mann mittlerweile, er kennt auch die exakte Höhe der Rente (1.000 Euro), die persönliche Lebensarbeitszeit (40 Jahre) und er weiß, dass sein Gegenüber „nie für einen Kapitalisten“ gearbeitet hat. Auch hat er erfahren, dass der Herr selbst zwar nicht, dafür aber seine Frau von Hartz IV betroffen ist, dass Schröder alle verarscht, beschissen und betrogen hat, dass eine Verbesserung der Hartz-Gesetze unmöglich ist und dass die NPD mit bestimmten Forderungen, „den Nerv des Volkes“ trifft, weshalb der Interviewte kurzzeitig überlegt, wie man das bei der Benotung berücksichtigen könnte.
Er vergibt dann für die NPD trotzdem eine sechs. Irgendwann ist die Befragung vorerst zu Ende. Die Gruppe versammelt sich. Einige haben drei ausgefüllte Fragebögen, einer vier und der junge Mann mit dem Rentner hat zwei. JOHANNES GERNERT