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Archiv-Artikel

Berlin und der gefühlte Islam

taz-Serie „Islam in Berlin“ (Teil 1): Im Kreuzberger Wrangelkiez leben mehr Muslime als anderswo in Berlin. Hat deshalb auch die Bedeutung des Islam zugenommen? Die Ansichten gehen auseinander

VON SABINE AM ORDE

12.000 Menschen leben im Kreuzberger Wrangelkiez zwischen Görlitzer Park und Spree, Kanal und Hochbahntrasse. 40 Prozent von ihnen haben keinen deutschen Pass. Die überwiegende Mehrheit von ihnen stammt aus der Türkei, die meisten sind Muslime. Sie stehen im Ruf, besonders traditionell zu sein. Vor drei Jahren begann die umstrittene Islamische Föderation Berlin (IFB) an einer der beiden Grundschulen im Kiez mit ihrem islamischen Religionsunterricht. Die Fatih-Moschee in der Schlesischen Straße, die offiziell zur IFB gehört, ist der einzige Gebetsraum im Quartier. Sie will in der Falckensteinstraße ein großes Kulturhaus errichten. Der Bauantrag ist gestellt, aber noch nicht entschieden. Das hat zu Auseinandersetzungen im Kiez geführt. Auch das – falsche – Gerücht, die IFB werde die Kurt-Held-Grundschule übernehmen, die im kommenden Jahr wohl geschlossen wird, hat für Aufregung gesorgt. Beeinflussen gläubige Muslime zunehmend die Atmosphäre im Kiez? Nimmt der Druck innerhalb der Community zu? Sind die Freiheiten der BewohnerInnen in Gefahr? Sechs Blicke auf ein Phänomen.

Die Quartiersmanagerin

Emine Basaran ist seit zwei Jahren Quartiersmanagerin im Wrangelkiez. Die Deutsche türkischer Herkunft ist Muslima. „Ich wurde in den Glauben hineingeboren“, sagt sie, „aber ich praktiziere vieles nicht.“ Ihr Urteil ist klar: Die Bedeutung des Islam im Wrangelkiez hat zugenommen. „Er ist auf jeden Fall sichtbarer.“ Grundlage dafür ist ein Vergleich des heutigen Straßenbildes mit Fotos aus den 70er- und 80er-Jahren. Ihre Erklärung: Die Religion biete ein Gruppengefühl und damit Sicherheit, die vielen Einwanderern aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit fehle. Das gelte besonders für Jugendliche. Eine Veränderung der Atmosphäre im Kiez hat Basaran bislang dennoch nicht beobachtet. „Mit all den Initiativen und der Szene gibt es hier ein starkes Gegengewicht.“

Der Imam

Orhan Sari hat dunkle, kurze Haare und einen ebensolchen Bart. Zum hellgrauen Anzug trägt er ein offenes Hemd. Der Imam ist seit zehn Jahren in Deutschland, sein Deutsch ist nicht perfekt, aber er kann sich gut verständigen. Zuerst war er Imam in der Kreuzberger Boppstraße, am Hauptsitz der IFB. Seit sechs Jahren ist er bei der Fatih-Moschee im Wrangelkiez, die offiziell zur IFB gehört.

„Viele Türken wissen, dass das eine Milli-Görüs-Moschee ist“, sagt Islamexpertin Claudia Dantschke. Milli Görüs wird vom Verfassungsschutz als extremistisch eingestuft, Verflechtungen mit der IFB sind bekannt. Die Föderation selbst bestreitet dagegen die Vorwürfe.

Der Gebetsraum ist im zweiten Hinterhof im Erdgeschoss, die drei anderen kleinen Räume liegen im Keller. Zum Freitagsgebet, sagt Sari, versammeln sich in der Moschee wöchentlich etwa 150 Gläubige, 120 Kinder ab acht Jahren kommen täglich für anderthalb Stunden zum Koranunterricht. Die Besucherzahlen seien seit Jahren stabil, sagt der Imam. Er glaubt nicht, dass die Bedeutung der Religion zugenommen hat. Die Aufmerksamkeit der Deutschen sei gestiegen.

Die Grundschulleiterin

Annette Spieler ist eine bodenständige Frau. Seit 1991 leitet sie die Fichtelgebirgsgrundschule im Wrangelkiez, seit drei Jahren gibt es hier Religionsunterricht der IFB. 110 Kinder nehmen nach Angaben der Organisation inzwischen daran teil. Ein großer Teil von ihnen, schätzt Spieler, geht nachmittags zusätzlich zum Koranunterricht in die Moschee. Im Sekretariat wird kaum nach Anträgen für den Religionsunterricht gefragt. Die Pädagogin geht davon aus, dass die Familien zu Hause aufgesucht oder in der Moschee angesprochen werden. Da sei wohl auch Druck im Spiel. Eine Familie, die ihr Kind vom Unterricht wieder abgemeldet hat, wolle sich deshalb öffentlich nicht äußern.

„Als ich die Schule übernahm, war Religion kein Thema“, sagt Spieler, „heute ist sie im Alltag präsent.“ Mehr Konflikte aber gebe es nicht. Die Teilnahme am Sportunterricht sei nach wie vor unumstritten, Klassenfahrten seien schon immer problematisch gewesen. Verschiebungen hat die Schulleiterin dennoch beobachtet: Da will eine deutsche Schülerin plötzlich kein Schinkenbrot mehr mit in die Schule nehmen, weil ihre türkischen Klassenkameraden meinen: „Schweinefleisch essen wir hier nicht.“ Sexualkundeunterricht findet statt, aber den Elternabend dazu hat Spieler abgeschafft. Sie will kein Forum schaffen, das sich gegen den Aufklärungsunterricht wenden kann. „In dem Moment, wo einer sagt, das geht nicht, das ist gegen die Religion, trauen sich die anderen nicht zu widersprechen.“

Der Erzieher

Müslüm Bostanci ist Erzieher, er arbeitet in der Schulstation der Fichtelgebirgsgrundschule. Er glaubt, dass die Bedeutung der Religion zugenommen hat. „Die Eltern haben häufig keine Arbeit und kein Geld, in der Moschee finden sie Sicherheit“, sagt er. Auch die gegenseitige Kontrolle sei stärker geworden. „Da wird im Café gefragt: Warum trägt deine Frau kein Kopftuch, warum schickst du dein Kind nicht in den Religionsunterricht?“ Zentral ist für ihn aber ein anderes Problem: Den Kindern werden in der Schule und außerhalb ganz unterschiedliche Werte vermittelt. Für die Youngsters sei es extrem schwierig, damit umzugehen. „Sie entwickeln quasi zwei Persönlichkeiten.“

Die Sozialpädagoginnen

Judith Gerling-Tamer und Katharina Frass sind Sozialpädagoginnen bei Elisi Evi, einer Mädchenberatungsstelle in der Skalitzer Straße. „Die Mädchen sind heute bedeckter“, sagt Gerling-Tamer und meint die Zahl der Kopftuchträgerinnen. Wie viel Druck von Seiten der Eltern dabei im Spiel ist, wissen die Pädagoginnen nicht. „Viele Mädchen sagen, dass sie sich selbst entschieden haben, aber es ist in ihrer Sozialistion angelegt“, so Gerling-Tamer. „Wenn sie sich wohl fühlen wollen in ihrer Familie, gehört das dazu.“ Nur in Einzelfällen berichten junge Frauen von Druck. Ein Beispiel: Weil ein Mädchen sich weigerte, das Kopftuch zu tragen, haben ihre Eltern sie eingesperrt und ihr den Kopf geschoren. Generell aber hätten die Probleme und Konflikte nicht zugenommen. „Einen Freund haben durften die Mädchen damals wie heute nicht, arrangierte Ehen und Zwangsheiraten gab es schon immer.“ Zugenommen aber habe die Auseinandersetzung zwischen den jungen Frauen. Frass: „Da werden Mädchen ohne Kopftuch als Schlampen beschimpft, die Religiösen stellen sich über andere.“

Der Standortmanager

Ahmet Iyidirli ist Bundesvorsitzender der türkischen Sozialdemokraten, im Auftrag des Quartiersmanagements kümmert er sich um das ethnische Gewebe im Wrangelkiez. Er selbst lebt seit fast 15 Jahren hier. Seine Einschätzung: Die Bedeutung des Islams hat zugenommen, weil er sichtbarer geworden ist. Mehr Zulauf haben müssten die Moscheen deshalb noch lange nicht. Die türkische Identität aber sei für die Leute noch immer das entscheidende. Iyidirli bezweifelt auch die weit verbreitete These, dass für türkische Jugendlichen die Religion wichtiger geworden sei. „Auch das Kopftuch bei den Mädchen kann man nicht allein mit Religion erklären.“ Die knallengen T-Shirts, die viele Mädchen tragen, passen dazu einfach nicht. Der indirekte Druck innerhalb der Community aber sei gestiegen, hat Iyidirli beobachtet. Gefährlicher aber findet er zweierlei: die sozialen Probleme im Kiez und das Verhalten der deutschen Gesellschaft: „Wenn über den Islam diskutiert wird, dann werden nur die Moscheevereine eingeladen, die ihre radikalen Positionen vertreten können. „Wir anderen sind aber auch Muslime.“