: Im Licht des Ganzen
In drei Konzerten stellten die Berliner Festspiel das Klavierwerk von Karlheinz Stockhausen vor: Aus der Askese der Moderne führt der Weg in den Klangrausch elektronischer Spielzeuge von heute
VON NIKLAUS HABLÜTZEL
Drei Abende sind nicht viel für Karlheinz Stockhausen. Er denkt mindestens in Wochen, wahrscheinlich aber in Äonen. Was er derzeit dieser Welt hinterlässt, sind Botschaften aus einem kosmischen Jenseits, variable, für temporäre Aufführungsanlässe zurechtgestutzte Kompositionen, die alle zu dem einen Opus magnum gehören, das dem Namen nach eine Oper, dem Vernehmen nach jedoch eher ein spirituelles Welttheater sein soll. Seine Episoden heißen nach den Wochentagen. Ein enormer Kunstwille bricht sich da seit Jahren Bahn, der fortwährend seinen eigenen mythischen Raum um sich herum erzeugt. Schon die schlichte Frage, was denn in diesen Sonn- oder Montagen aus „Licht“ wirklich zu hören sei, klingt vermessen. Tatsächlich ist sie kaum zu beantworten, da Aufführungen des großen Ganzen die Kassen wie auch die Geduld der Opernhäuser auf absehbare Zeit überfordern. Stockhausens Ruf leidet darunter nicht im Geringsten, mit jährlichen Kursen in seinem Heimatdorf Kürten und eigenem Verlag sorgt er selbst für seine eigene Legende.
Auch die Berliner Festspiele haben offenbar den Wunsch verspürt, diesem Großen, der da unter uns lebt, eine Art Denkmal zu setzen. Man muss ihnen dankbar sein, dass sie auf die vergleichsweise prosaische Idee kamen, sein Klavierwerk in Erinnerung zu rufen. Wenn man die aus den Licht-Tagen extrahierbaren Stücke für Synthesizer hinzuzählt, liegen 18 Einzelwerke vor, die einen Zeitraum von 1952 bis heute umspannen. Ein Lebenswerk für Tasteninstrumente also zeichnet sich ab, der Versuch jedoch, es in seinem Zusammenhang insgesamt vorzustellen, endet in einem veritablen Denkmalsturz.
Das Beste, was sich darüber sagen ließe, wäre vielleicht, dass alles nur ein großer Klamauk war wie das Klavierstück XVIII von 1981, zum Abschluss der Konzertreihe aufopferungsvoll interpretiert von Frank Gutschmidt. Stockhausens Beitrag zur Aktionskunst der Fluxus-Bewegung ist der Abschuss von Spielzeugraketen. Nein, sie zünden nicht, sondern werden von einem Schleudermechanismus zur Linken des Konzertflügels ein paar Meter über die Bühne geworfen, kein Knall, kein Rauch, nichts weiter. Aber lustig, etwa so wie die Glöckchen links und rechts, die der Pianist schütteln muss. Er muss außerdem Zahlen singen, in die Luft küssen, zischen und die Klavierseiten mit Hämmerchen und Fingernägeln bearbeiten. Weniger lustig sind drei oder vier extrem banale Motive, die er auf den Tasten spielt. Sie nähren den quälenden Verdacht, dass es Stockhausen auch in diesem Fall nicht um die fröhlich lachende Verweigerung der Suche nach tieferer Bedeutung ging. Im Gegenteil, der Mann meint es furchtbar ernst, nicht nur dann, wenn er von Erzengel Michael und Luzifer schwadroniert, sondern vor allem dann, wenn er sein Gerede (und Geschreibe) in Töne setzt. Dann wabert, raunt und heult nichts anderes als eben diese private Mythologie aus den Lautsprechern. Der Großmeister selbst am Mischpult und sein Spieler an den elektronischen Tastaturen inszenieren eine Messe. Jaulende Glissandi und technisch manipulierte Echos immer gleicher, erschütternd simpler Figuren sollen uns eine angebliche Transzendenz des Klanges um die Ohren sausen lassen. Sie ist so arm an Inhalt wie alles, was nur geglaubt, aber nicht gedacht ist. Und die wenigen Reize aus der Retorte sind rasch verbraucht, durchschaubar und klingen bald so, als sei man aus Versehen in die Abteilung für Spielzeugelektronik eines Kaufhauses geraten.
Auch das ist komisch, jedoch in einem Maße unfreiwillig, dass sich Rückfragen nach dem Anfang dieser Art des Komponierens aufdrängen. Wie konnte aus der radikalen, asketischen Moderne jener Darmstädter Ferienkurse der 50er-Jahre diese verwaschene, formlose, an musikalischen Gedanken verarmte Klangmalerei entstehen? Kann es sein, dass diese ästhetische Kapitulation vor einem offenbar unstillbaren, massenhaften Bedürfnis nach Erbauung schon im Anfang angelegt war, der doch so ganz anders klang? Es kann sein – auch diese Erkenntnis ist den drei Berliner Konzerten zu verdanken. Das erste begann chronologisch. Die Skandale und Pfeifkonzerte um den ganz besonders radikalen Exponenten der Avantgarde sind längst Geschichte, was heute nachklingt, ist eine überaus filigrane, meditative Musik der stillen Momente, des beinahe schon andächtigen Hineinhörens in den Klang jedes einzelnen Tones, jeder Vibration einer Klaviersaite – auch dann, wenn das Instrument mit Ellbogen und Fäusten traktiert wird. Das ist noch immer lebendig, jedoch weckt es Assoziationen, die dem jungen Stockhausen fern lagen. Seine Kompositionen erzeugen heute subtile Stimmungen, sie lassen musikalische Zusammenhänge im Inneren des Stücks aufklingen, aber auch mit der Tradition; die planvoll zufälligen Eruptionen der Dissonanz erinnern gelegentlich sogar an ihr genaues Gegenteil, nämlich an die formgebenden Ruhepunkte eines Cantus firmus.
So klingt es in den Ohren von heute, doch nichts davon ist geblieben in den elektronischen Betäubungen der späteren Werke – denn nichts davon war beabsichtigt. Vielmehr legte Stockhausen von Anfang an mehr Wert auf seinen Kommentar als auf das Stück selbst. Es ging ihm immer nur um die Eroberung eines neuen, keinesfalls emotionalen, sondern strikt technischen Klangraums, den er – formal – mit pseudomathematischen Formeln konstruieren wollte, dessen klangliche Realität aber die Elektroakustik war. Die elektronische Industrie hat ihm bald derart perfekte Spielzeuge geliefert, dass er alles andere darüber vergaß. In kindlicher Verwechslung von Mitteln und Zwecken erscheint ihm heute das nahezu beliebig programmierbare Brummen und Fiepsen der Maschinen als metaphysisches Echo des Universums. Er hat es mit allerlei Engeln und Teufeln bevölkert, die Klangwolken aber, die sie illustrieren sollen, sind schlicht aus dem Betriebshandbuch für elektronische Tongeneratoren abgeschrieben.