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Archiv-Artikel

„Sozialneid prägt die Debatte“

Gleiche Lebensverhältnisse in der ganzen Republik – das sind Traumtänzereien, findet der Soziologe Franz Lehner. Der Anspruch darauf sollte deswegen aus dem Grundgesetz herausgestrichen werden – und die Spreewälder von den Schweizern lernen

taz: Herr Lehner, am Institut für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen haben Sie eine Studie zur Lebensqualität in Kleinstädten geleitet. Kann man denn gleiche Lebensverhältnisse in unterschiedlichen Regionen überhaupt schaffen?

Franz Lehner: Diese Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse ist ein saublödes Wort. Warum muss denn immer alles gleich sein? Da können wir gleich überall Kamele hinstellen, die Dreck machen – dann hätten wir überall gleiche Verhältnisse.

Bundespräsident Köhler hat also Recht?

Ja. Er hätte aber auch sagen sollen: Ihr müsst dort hingehen, wo ihr das bekommt, was ihr wollt. Man kann doch nicht zu Aldi gehen und sagen, mir fehlt das große Käsebuffet. Wer tolle Karrierechancen haben will, muss in die Stadt ziehen. Und wer viel Grün braucht, der soll das nicht in Frankfurt am Main verlangen.

Nach welchen Faktoren kann man Lebensqualität denn bemessen?

Herr Köhler hat sich auf Durchschnittseinkommen und Arbeitslosigkeit bezogen. Das ist auch im Grundgesetz mit der Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse gemeint. Es geht da nicht um Lebensqualität im Sinne von Ökologie und Kultur. Die Lebensqualität in diesem Sinne ist in München offensichtlich größer als in Gelsenkirchen oder im Osten.

Aber sollte der Staat nicht wenigstens versuchen, diese Unterschiede auszugleichen?

Wir können nicht erwarten, das an jeder Ecke eine Uni ist und der ICE vorbeifährt. Das kann man auch mit viel Staat und Subventionen nicht.

Das Grundgesetz garantiert aber doch die Chancengleichheit in den unterschiedlichen Regionen …

Ich würde den Artikel aus dem Grundgesetz rausschmeißen und festlegen, dass der Staat eine Grundversorgung flächendeckend anbieten muss. Die Verantwortung für die Entwicklung muss dann an die Regionen gegeben werden. Bei mehr Eigenverantwortung würden die Bundesländer ihren Gürtel ihren Möglichkeiten anpassen.

Stürzt der Osten dann nicht komplett ab?

Der Lebensstandard ist im Osten niedriger. Aber wir müssen den Begriff der Lebensqualität differenzieren. Beispielsweise haben die Leute im Spreewald etwas, was die in Frankfurt am Main nicht haben – viel schöne Natur.

Auch in Ihrer Heimat, der Schweiz, gibt es arme und reiche Gebiete. Wie wird dort damit umgegangen?

In Deutschland ist die Debatte viel mehr von Sozialneid geprägt als in der Schweiz. Die Bergkantone bei uns würden sich niemals mit Zürich vergleichen. Die haben ein ganz anderes Selbstbewusstsein.

Der Spreewald könnte also von den Bergkantonen lernen?

Ja. Es gibt in Deutschland die Mentalität: Ich bleibe hier sitzen, und ihr müsst mir alles bringen. Das ist den Schweizern völlig fremd.

Ist das Problem also weniger die wirtschaftliche Lage als persönliche Erwartungen?

Ja, das sind doch Traumtänzereien. Das kommt zum Teil daher, dass man den Ossis Dinge versprochen hat, die man nicht einhalten kann. Bestimmte ökonomische Realitäten kann man nicht einfach wegputzen.

Was können die Menschen im Osten denn tun?

Die einzelnen Orte müssen sich überlegen, was sie aus sich machen können – was sie machen können, um attraktiv zu sein. Es gibt da für fast jede Region eine vernünftige Lösung.

In Ostdeutschland gibt es mehr Kindergärten und weniger Scheidungen. Ist nicht vielleicht die Lebensqualität dort höher als im Westen?

Ja, das könnte man so sagen – wenn man zum Beispiel die Qualität der Landschaft und der Infrastruktur nicht außer Acht lässt, wie das bisher getan wird.

INTERVIEW: SASCHA TEGTMEIER