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Archiv-Artikel

„Die Deutschen werden dümmer gemacht“

Jutta Allmendinger, Forschungschefin der Bundesagentur für Arbeit, sieht im dreigliedrigen Schulsystem eine institutionalisierte Hemmschwelle für Bildungswillige

taz: Frau Allmendinger, Sie beobachten für die Bundesagentur für Arbeit, wie sich die Qualifikationen entwickeln. Passt das Bildungssystem zum Arbeitsmarkt von morgen?

Jutta Allmendinger: Nur bedingt. Der Arbeitsmarkt fragt immer stärker Beschäftigte nach, die in der Lage sind, sich als Person weiterzuentwickeln und Innovationsmöglichkeiten für sich zu nutzen. Nun müssen wir feststellen, dass unser Bildungssystem zu wenige solcher Akademiker auf den Markt bringt. Der Anteil der Studierenden an einem Jahrgang hat zu lange stagniert, international ist das völlig ungenügend. Auch bei den Investitionen hinkt Deutschland hinterher.

Wo liegen die Ursachen dafür?

Ein Problem ist die Schule und ihre Gliederung in drei verschiedene Typen. Das gegliederte System sortiert zu viele aus, die von Talent und Interesse her ohne Weiteres auf den Hochschulen erfolgreich sein könnten. Und wir geben den Kindern nicht, wonach sie verlangen: viele Stunden anregenden Lernens …

die OECD sieht ein Minus von 160 Stunden schon am Schulanfang.

Ein völlig falsches Signal, das wir da gleich zum Bildungsstart vermitteln. Die Ganztagsschule könnte dem abhelfen, wird aber von den Ländern viel zu zögerlich angenommen. Davon könnten bildungsferne Familien profitieren – sie hätten Ersatz für den nachmittäglichen Fernsehkonsum ihrer Kinder.

Heißt das: Die Deutschen werden immer weniger und immer dümmer?

Sie werden dümmer gemacht. Wir kommen klug auf die Welt – und dann treffen wir auf ein Schulsystem, das zu wenige motiviert und zu viele außen vor lässt. Manche sprechen von persönlichen Hemmschwellen, die Menschen hätten, ein Studium aufzunehmen. Ich halte das für falsch. Wir haben in Deutschland eine institutionalisierte Hemmschwelle – das Schulsystem. Die frühe Auslese in unseren Schulen hindert junge Menschen daran, weiterzulernen.

Warum greift die Bildungspolitik das Thema Schulstruktur nicht auf?

Die scharfe Trennung in Gymnasium, Real- und Hauptschule ist nicht entwicklungsfähig. Das wird hoffentlich Thema in der Föderalismuskommission werden. Ich finde, man sollte dort jedes einzelne Bundesland vorladen. Aber das reicht nicht. Die Abschottung der Bildungspolitik von Ressorts wie Soziales oder Familie macht keinen Sinn. Wir müssen ressortübergreifend arbeiten und föderal kooperieren, wenn wir die Ungleichheit überwinden wollen.

Der Bundespräsident hat gesagt, Ungleichheit könne auch Ansporn sein. Gilt das auch in der Bildung?

Das Prinzip des Förderns und Forderns lässt sich so nicht auf Kinder übertragen. Wir brauchen Startchancen für alle, das heißt, wir dürfen die Ungleichheit nicht noch verstärken. Das aber ist unser Problem: Wir lassen zu viele Potenziale ungenutzt. Die Menschen bekommen nicht die Chancen, die sie verdienen und die das Land dringend braucht.

Gibt es Gewinner in diesem System?

Schwierige Frage. Zum einen profitieren die Frauen. Für sie gibt es praktisch keine Zugangsbarrieren zu Bildung mehr. Aber man muss erst sehen, ob sich das in Gehälter und Positionen umsetzt. Die eindeutigen Gewinner heute sind Kinder aus bildungsnahen Schichten und die Regionen mit brummender Wirtschaft. Beide nutzen die Vorteile, die ihnen das Bildungssystem liefert.

Was kann man tun?

Wir sollten nicht nur von Eliteförderung reden, wir müssen unten ansetzen. Und: Die Bildungspolitik sollte nicht wieder warten, bis alle Ampeln auf Rot stehen. Die Bildungsexpansion ist seit einer Dekade vorbei – das darf nicht noch mal passieren. INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER