: Plötzliche Einsicht
Josef Fritzl bekannte sich gestern im österreichischen Inzestprozess in allen Punkten schuldig. Es war wohl die Schilderung seiner Tochter, die seine Verteidigungsstrategie zusammenbrechen ließ
VON RALF LEONHARD
Zu Beginn des dritten Prozesstages im österreichischen St. Pölten verbarg Josef Fritzl sich erstmals nicht hinter seinem blauen Aktenordner. Psychologen mögen im Nachhinein deuten: Er ließ seine Maske fallen. Denn der Dammbruch, der folgte, überraschte auch seinen Anwalt: Der Angeklagte bekannte sich plötzlich in allen Punkten schuldig. Bis dahin hatte er die Tatbestände Mord und Sklavenhandel, die mit dem höchsten Strafmaß bedroht sind, zurückgewiesen.
Die Dienstag per Video eingespielte „kontradiktorische Einvernahme“ seiner Tochter, also die Befragung in einem anderen Raum als dem Verhandlungssaal, habe seinen plötzlichen Sinneswandel ausgelöst, erklärte er der Richterin Andrea Humer. Diese Aussage, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit etappenweise präsentiert worden war, habe ihn erkennen lassen, welche Gewalt er der heute 43-Jährigen angetan habe.
Plötzlicher Sinneswandel
Die mit seinem Anwalt Rudolf Mayer abgesprochene Verteidigungsstrategie brach zusammen, als Fritzl plötzlich auch zugab, den Todeskampf eines Zwillings in den letzten Apriltagen 1996 mitverfolgt zu haben: „Ich weiß nicht, warum ich nicht geholfen habe. Ich war der Hoffnung, dass er’s durchsteht.“ Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er stets behauptet, er sei bei der Geburt der beiden Zwillinge gar nicht anwesend gewesen. Jetzt heißt es: „Ich bekenne mich schuldig. Ich hätte erkennen müssen, dass es dem Baby schlecht geht“.
Fritzl dürfte durch die Aussagen seines wichtigsten Opfers erstmals wirklich begriffen haben, was er angerichtet hat. Mit dem Geständnis erbittet er nicht Milde, sondern die höchste Strafe, damit er seine Taten büßen kann.
Dann kam Adelheid Kastner zu Wort, die Verfasserin des psychiatrischen Gutachtens. Sie erklärte Fritzl für voll schuldfähig: „Das heißt, er ist nicht krank, aber er ist schwer gestört.“ Diese Persönlichkeitsstörung liege bereits in seiner frühen Kindheit begründet, so die Expertin. Seine Mutter habe ihn nur zur Welt gebracht, um ihrem Mann zu beweisen, dass sie fruchtbar sei. Aber geliebt habe sie ihn nicht. Fritzl sei als Kind isoliert gewesen und oft blutig geschlagen worden. Daraus habe sich später der Wunsch nach Umkehrung dieser Ohnmacht ergeben, der Wunsch, einen Menschen ganz und unauflösbar zu besitzen. Der Plan, seine heranwachsende Tochter in ein Kellerverlies zu sperren, um sie ganz zu besitzen, war von langer Hand vorbereitet, der Keller bereits als Verlies adaptiert. Folgt das Richterkollegium den Empfehlungen der Psychiaterin, wird der Gewalttäter nach Absitzen seiner Strafe in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.
Fritzl erleichtert mit seinem Geständnis den Geschworenen ihre Arbeit. Der Urteilsspruch kann damit bald nach den Schlussplädoyers am Donnerstag ergehen. Der „Prozess des Jahrhunderts“ wird relativ unspektakulär zu Ende gehen. Ob Fritzl auch des Sklavenhandels für schuldig erkannt wird, hat eher nur anekdotischen Charakter. Denn der im Strafgesetzbuch von 1975 verankerte Tatbestand wurde noch nie verhandelt und galt bisher als „totes Recht“.
Die Justizbehörden zeigen während des Prozesses eine extreme Zurückhaltung und Sachlichkeit, als wollten sie wiedergutmachen, was die Bezirkshäuptlinge von Amstetten nach Auffliegen des Verbrechens letztes Jahr durch ihre Geschwätzigkeit angerichtet hatten. Damals wurden in Pressekonferenzen vor den Medien selbst intime Details aus der Erstvernehmung der Tochter ausgeplaudert. Die Zeitungen, die heute angehalten werden, die Identität der Opfer zu schützen, kannten und verbreiteten bald die Namen sämtlicher Familienmitglieder.
Wer in Fritzl nicht einen seelisch verkümmerten Patriarchen, sondern ein typisch österreichisches Phänomen sehen wollte, der erkannte in ihm einen verklemmten Herrenmenschen, der sich nur im verborgenen Keller richtig austoben konnte. Englische Blätter mutmaßten, der dreijährige Fritzl sei wohl auch in der Menge zu finden, die Adolf Hitler 1938 in Amstetten zujubelte. Fotos von aufgepeitschten Rechtsextremen bei FPÖ-Wahlveranstaltungen komplettierten das Bild von Österreich am Rande des Abgleitens in den Neofaschismus.
Die Einwohner von St. Pölten sind jedenfalls froh, wenn der Rummel nach dem Prozess um Josef Fritzl endlich vorbei ist und sie wieder freie Parkplätze finden können. Das „Fritzl-Schnitzel“, mit dem ein Gastwirt die angereiste Pressemeute in sein Lokal locken wollte, wird wohl schnell wieder von der Speisekarte verschwinden.