: Real im Delirium
Bayer Leverkusen stutzt die Galaktischen von Real Madrid endgültig auf irdisches Normalmaß zurück. Derweil ist man sich nach dem 3:0-Sieg nicht sicher, ob das Spiel nun Wahn- oder Irrsinn war
AUS LEVERKUSEN BERND MÜLLENDER
Nach diesem atemberaubenden 3:0 gegen Real Madrid, das sich auch über ein 6:0 nicht hätte beklagen können, schien ein kleiner Wettbewerb ausgeschrieben, wie man den Gala-Auftritt der Bayer 04 Fußball GmbH am euphorischsten in Worte fassen könnte. Die Kommentare mäanderten um Begriffe wie Sternstunde, sensationelles Comeback, gigantisch, geil, Irr- und Wahnsinn. Der verletzte Kapitän Jens Nowotny fand es „einfach fantastisch“. Tribünengast Jürgen Klinsmann („absolut toll“) hatte der Abend „einen Riesenspaß gemacht“. Und Bayer-Geschäftsführer Wolfgang Holzhäuser hatte schlicht „ganz großen Fußball“ gesehen.
Auch musikalisch hatte alles gepasst. Als Real endlich nach vielen Chancen das erste Tor kassierte durch Krzynoweks 33-Meter-Kracher, spielten sie „Knockin’ on Heaven’s Door“ ein wie einen ironischen Gruß an die Galaktischen, die sich in diesen Sphären auskennen müssten. Zur Pause liefen ein paar Takte Star Wars und nach Francas 2:0 „Freude schöner Götterfunken“. Real im Delirium. Dann ging der Regie die beziehungsreiche Musik aus. „Raumpatrouille“ wäre noch was gewesen: die Königlichen als Weltraumschrott an den Rand der Unendlichkeit geschickt. Peter Schillings Ohrwurm hätte die Bayer-Darbietung gut beschrieben: „Völlig losgelöst“. Die entrückten Fans verabschiedeten Real schließlich zu „Go West“ mit donnerndem Chor „Was wollt ihr in der Champions League?“ Eine gute Frage.
Unvergesslich war nicht nur die packende Fußballshow, sondern auch Minute 58. Da war Luiz Nazario Da Lima Ronaldo ausgewechselt worden. Der große, einst sausewindige Schrecken aller Abwehrreihen, ersetzt durch einen Senor Albert López Celádes. Als die Nr. 9 aufleuchtete zum Zeichen des Spielertauschs, war ein seltsamer Geräusch-Mix aus Staunen, Freude und Entgeisterung durchs Rund gegangen. Ronaldo als unbrauchbar abgestempelt – das war schon ein historischer Moment. Wann ist der Mann je nach weniger als einer Stunde aussortiert worden?
Ronaldo hatte die Existenz von Gegenspielern als eine Art surreale Beleidigung aufgefasst. Mehrfach wollte er bockig genau da hin, wo schon einer stand, und prallte regelmäßig mit seinem etwas zu rundlichen Körper ab. Dabei waren meist Bayers überragende Defensivkräfte Juan und Roque Junior im Weg; Landsleute, die Ronaldo eigentlich kennen müsste aus der Selecao.
Die Kollegen Mitstars zeigten eine eigene Interpretation von mannschaftlicher Geschlossenheit. Raúl wirkte als fleißiger Praktikant für Fehlpässe. Beckham war defensiv ein Totalausfall, weil er sein ersetzliches Gebein in jeder brenzligen Situation zurückzog, nicht nur beim 2:0. Zidane (Schulter ausgekugelt kurz vor der Pause) machte wie stets offensiv keinen Fehler, aber davon zu wenig. Figo, zumindest teilbemüht, gab auch in der BayArena nach Zweikämpfen den Gepeinigten, dem die ganze Welt Böses will. Bester Mann war Neuzugang Michael Owen (20 Millionen Ablöse): Er hatte den Abend auf der Bank verbracht.
Bernd Schneider sagte nachher: „Wir wollten den Madrilenen auf den Füßen herumstehen, wie es unser Trainer gesagt hat.“ Das hatten sie mit unablässiger Hingabe getan und den Gegner als seelen- und wehrloses Ensemble von Veteranen entlarvt. Die spanische Zeitung Marca schrieb gestern, Reals hilflose Spieler seien „wie Vogelscheuchen über den Platz gestolpert“.
Die Vogelscheuchen hatten nur behäbig die wieseligen Gegenspieler angegriffen – quasi mit Resting statt Pressing. Diese kleinen Pausen gaben Bayer alle Möglichkeiten, den Ball so zauberhaft zirkulieren zu lassen und zum Abschluss zu kommen, als ginge es gegen die Reserve von Irreal Dormagen. Schon zur Pause hätte es „3:0 oder 4:1 stehen müssen“, fand Trainer Klaus Augenthaler zu Recht. Der Grantler-Coach fand seine Elf noch besser als bei der 4:1-Gala neulich gegen die Bayern, befand aber: „Die Spieler haben keine Zeit, sich feiern zu lassen. Bis Dezember gibt es nur noch Schlafen-Laufen-Schlafen-Laufen.“
„Mentale Probleme“ machte bei den schwer Gedemütigten Roberto Carlos aus. „Bayer hat uns überrollt“, hatte Realcoach Jose Camacho richtig beobachtet. Warum? „No sé“ – ich weiß nicht. „Wir haben uns das Geschehen nur angeschaut. Ich wusste meine Spieler nicht einzustellen.“
Ähnlich pure Hilflosigkeit kennt Augenthaler auch, Samstag hatte Bayer realhaft leidenschaftsarm in Mainz 0:2 verloren, ein Schock, dessen nachhaltige Heilkraft noch unklar ist. Lange dozierte Augenthaler über die Probleme der Motivation, hoffend, dass die Spieler „endlich gelernt haben, was notwendig ist: Leidenschaft, Laufbereitschaft, Entschlossenheit“. Und schon während der Show habe er, quasi im Denkspagat, „das Nürnberg-Spiel am Samstag im Blick gehabt“. Auges Exclub wird kaum ein so dankbarer Gegner wie Real. Dennoch, wird Bayer womöglich – ja, Meister? In allen Ligen, so Augenthaler, sei es „zu früh für Prognosen“. Immerhin, Bayers Saisonziel wird korrigiert: „Besser als Platz 3“, sagt Augenthaler. Vizekusen lässt schon mal grüßen.