: Es geht darum, wie demonstrativ ein Symbol ist
„Die gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit Religion und religiösen Symbolen im öffentlichen Raum hat erst begonnen.“ Gespräch mit Johannes Kandel, zuständig für interkulturellen Dialog in der Friedrich-Ebert-Stiftung, über die gesellschaftliche Herausforderung des Kopftuchs
taz: Herr Kandel, wie sieht es aus mit der religiösen Vielfalt in einer christlichen Leitkultur?
Johannes Kandel: Dazu müsste man definieren, was eine christliche Leitkultur ist. Wir haben eine säkularisierte Gesellschaft mit starken christlichen Traditionen.
Was heißt das?
Die Leute gehen zur Kirche. Sie lassen ihre Kinder taufen. Sie heiraten kirchlich, sie lassen ihre Verstorbenen kirchlich bestatten. Sie nehmen die Kirche gerne in Anspruch, wenn es sozusagen um die Umrahmung ihres bürgerlichen Alltags geht, aber sie lassen sich beispielsweise von der Kirche in ihre moralisch-ethischen, ihre individualistischen Haltungen, ob es das Thema Sex ist oder Krieg und Frieden, nicht reinreden.
Ist das Ihre persönliche Meinung?
Nein. Dazu gibt es sowohl von der katholischen wie von der protestantischen Kirche empirische Unteruchungen.
Was heißt religöse Gleichstellung in der multikulturellen Gesellschaft?
Ich halte die Diskussion, wie sie Frau Ludin und die Gruppen hinter ihr über das Kopftuch führen, für völlig übertrieben. Die Religionsfreiheit ist ja nicht in Frage gestellt, wenn Frau Ludin in einigen Bundesländern nicht mit dem Kopftuch unterrichten darf.
Religon und weltanschauliche Gemeinschaften haben in der öffentlichen Schule einen Anspruch auf Gleichbehandlung.
Nun geht die Debatte aber um religöse Symbole außerhalb des Religionsunterrichts. Und die muss genau geführt werden. Ist es das Gleiche, wenn das Kreuz in der Klasse hängt, wenn man im Kopftuch zur Schule kommt oder mit einem Kreuz um den Hals? Ich finde, das Wichtige an dem Gerichtsbeschluss des Bundesverfasungsgerichts ist, dass nun die gesellschaftliche Diskussion darüber geführt wird.
Sehen Sie einen Unterschied
Ich persönliche sehe durchaus einen Unterschied zwischen dem islamischen Kopftuch und dem Kreuz am Hals. Koptücher werden unter anderem von Frau Ludin als religiöse Pflicht dargestellt. Das ist ein Unterschied zum Kreuz: Die christliche Religion schreibt keiner Lehrerin vor, ein Kreuz zu tragen. Es ist ihre individuelle Entscheidung. Es geht darum, wie verbindlich und wie demonstrativ ein Symbol ist. Die Schule legt sich nämlich Zurückhaltung auf und verzichtet im Interesse der Gleichbehandlung auf religiöse Symbole.
Es gibt also keinen Anspruch darauf, vom Staat vor religiösen Symbolen geschützt zu werden. Was bedeutet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts?
Es setzt einen sehr weit gehenden Aushandlungsprozess in der Gesellschaft in Gang. Und von der Schule erfordert es eine Güterabwägung. Wenn nun ein Landesgesetzgeber sagt, eine Lehrerin muss sich den Eingriff in ihre individuelle Religionsfreiheit gefallen lassen, weil wir die weltanschauliche Neutralität des Staates als Rechtsgut in diesem Fall höher ansetzen als das individuelle Recht auf Religionsfreiheit, dann ist nicht auszuschließen, dass es weitere Prozesse gibt.
Wegen Gleichstellung.
Genau.
Warum verbannt man dann nicht gleich alle religiösen Symbole, Kippa, Kreuz etc., aus der Schule?
Man könnte dies für die Schule reklamieren, wenn man die Schule als religions- und weltanschauungsfreien Raum definiert.
Was heißt denn „weltanschauliche und religiöse Neutralität“?
Es heißt nicht wie in Frankreich das Verbannen der Religion aus der Schule. Wir müssen genauer bestimmen, was wir meinen mit Neutralität.
Wir sind also am Anfang einer gesellschaftlichen Debatte?
Ja, und diese Debatte sollte möglichst frei bleiben von schrillen Tönen. Wir haben andere Religionen erst seit Anfang der Sechzigerjahre als Ansprechpartner. Man muss beispielsweise mit Muslimen darüber reden, ob sie, wie die Kirchen, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts werden können. Wenn sie die Voraussetzung erfüllen, warum nicht?
Unterstützen große Teile der Kirchen das Kopftuch, weil sie ihren eigenen Einfluss gefährdet sehen?
Sie sehen eine solche Debatte mit Sorge, weil sie auf die Unterschiede des religiösen Symbolgehalts Wert legen und eine Diskussion darüber wollen. Ich persönlich bin auch dafür, dass man an dem konfessionellen Unterricht festhält, weil er die Möglichkeit bietet, Kinder mit einer gelebten Religion in Verbindung zu bringen. Ich finde das besser als ein neutral informierendes Unterrichtsfach. INTERVIEW: EDITH KRESTA
Johannes Kandel, Dr. phil., ist Leiter des Referats Interkultureller Dialog in der Politischen Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin