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Archiv-Artikel

Berlin für Warschau

Am 17. September 1939 wird die zweite polnische Republik aufgelöst. Doch polnische Soldaten kämpfen weiter. Sie führen ihren eigenen Krieg gegen Deutschland. In Maschinen der Alliierten

VON WOJCIECH PIECIAK

Wenn wieder Deutschland zu bombardieren wäre, er würde es noch einmal tun. Jozef Zubrzycki denkt heute genauso wie vor sechzig Jahren. „Es ging darum, mein Land zu befreien.“ Siebenhundertvier Stunden flog Zubrzycki während des Zweiten Weltkriegs durch die Luft, um deutsche Städte in Schutt und Asche zu legen.

Schon als Kind hatte er Kampfpilot werden wollen wie sein älterer Bruder. Vielleicht, weil der Bruder bei Frauen so erfolgreich war. Mit sechzehn Jahren ging Jozef zur polnischen Luftwaffe. Seine Mutter weinte und flehte, er solle es nicht tun – aber das half nichts. Der Krieg lässt ihn bis heute nicht los. Neunzig Jahre ist er jetzt alt, doch er erinnert sich genau. Wenn er in seiner Wohnung in Nowa Huta bei Krakau davon erzählt, nennt er immer: Jahr, Tag und Stunde.

1. September 1939; eine warme Nacht. In Zubrzyckis Einheit, die in der Nähe der Grenze bei Lodz stationiert ist, will niemand so recht schlafen. Um fünf Uhr früh Motorenlärm: deutsche Bomber. Der Kommandeur gibt den Einsatzbefehl. Einem Kameraden gelingt es, an diesem Tag einen „Schwaben“ abzuschießen. So nannten die Piloten ihre deutschen Feinde.

17. September 1939. Stalins Armeen rücken in Polen ein. Der Staat hört auf zu existieren. Einen Tag später versucht Zubrzycki, nach Frankreich zu fliehen. Dorthin hat sich die polnische Regierung gerettet, dort wird eine neue Armee gebildet, die – so glaubt er – zusammen mit Franzosen und Briten Polen befreien soll. Doch zunächst landet er in einem Internierungslager in Rumänien. Über Jugoslawien gelangt er schließlich nach Griechenland. 1940 flieht er auf einem Handelsschiff nach Frankreich und dann, nach der französischen Niederlage, weiter nach England. Auch hier werden polnische Einheiten neu gebildet. Zubrzycki bekommt eine Uniform mit dem Schriftzug „Poland“. Er wird einem polnischen Bombergeschwader zugeteilt.

Die ganze polnische Armee im Westen besteht aus Freiwilligen, die lange Wege hinter sich haben. Zum Beispiel Jan Janczak, der seine Erinnerungen in mehreren Büchern verarbeitet hat. Heute lebt er in Warschau und ist Sekretär der „Vereinigung Polnischer Flieger“.

Janczak durchquerte die halbe Welt, um schließlich Funker in einem polnischen Wellington-Bomber werden zu können. 1939 hatte er bei Warschau gekämpft, war in sowjetische Gefangenschaft und in ein Arbeitslager in Workuta geraten.

Nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges und der von Stalin verkündeten Amnestie für Polen gelangt der junge Mann mit Umwegen über Indien und Südafrika schließlich nach England. Am ersten Einsatz, den Janczak fliegt – dem Angriff auf Bremen im Frühjahr 1943 – sind neun polnische Besatzungen beteiligt. Fünf davon kommen zurück. Die Piloten überlegen nicht, ob ihre Bomben Fabriken treffen oder Städte. Sie hatten ihre Familien in der Heimat zurückgelassen, die von den Deutschen terrorisiert wird. Sie dachten an die wehrlose 16.000-Seelen-Kleinstadt Wielun, die von den Deutschen in den ersten Stunden des Krieges in Schutt und Asche gelegt worden war. Und an die darauf folgenden Zerstörungen. Zubrzycki erinnert sich: „Zuerst fielen die so genannten Christebäume, sie beleuchteten das Ziel. Dann folgte unsere Ladung. Eine Bombe, eine zweite… Eine Weile noch und wir sahen, wie die Erde da unten brannte. Alles in Flammen. Wir, an Bord, haben geschrieen: Okay!“

Und es sind nicht nur Polen, die durch Angriffe für den Kampf motiviert werden. Der Bombenkrieg gegen Deutschland ist keine englisch-amerikanische, sondern eine Vielvölkerschlacht. An den Teppich-Angriffen, die die Alliierten seit 1942 fliegen, sind Männer vieler Nationen beteiligt: neben den Engländern und US-Amerikanern auch Tschechen, Franzosen, Norweger, Belgier und Holländer. Nur wenige haben „ihre“ eigenen Einheiten: Für das Bomber Command kämpfen eine tschechoslowakische, zwei französische – und vier polnische Geschwader, Nr. 300, 301, 304 und 305. Anders als ihre britischen oder US-Kameraden können die Polen nicht nach 25 Feindflügen nach Hause zurückkehren. Denn eine Heimkehr gibt es mitten im Krieg für sie nicht.

Die Polen fliegen bis zum Ende mit. Für viele bedeutet das: bis sie abgeschossen werden. Den Rekord in der britischen und US-Luftwaffe hält eine polnische Besatzung: Sie flog sechsundsechzig Einsätze. Auf ihren Bomben, die über Deutschland abgeworfen werden, schreiben sie: „Für Warschau“ – das bedeutet Rache für die polnische Hauptstadt, deren Bevölkerung bereits 1939 infolge deutscher Luftangriffe 20.000 Tote zu beklagen hatte und die unter dem Regime der Besatzung litt.

Denn noch bevor der Warschauer Aufstand im Sommer 1944 ausbrach (nach dessen Niederschlagung wurde die Stadt laut Hitlers Befehl zerstört), verlor die Hauptstadt Polens fast die Hälfte der Einwohner: neben den fünfhunderttausend jüdischen Warschauern auch hunderttausend polnische Warschauer, die erschossen oder deportiert wurden. So wird diese durch Angriffe und NS-Terror wohl am stärksten betroffene Stadt Europas noch während des Krieges zum Symbol.

In der Royal Air Force kämpfen auch polnische Jägerpiloten. Erst verteidigen sie Großbritannien, dann begleiten sie alliierte Bomber, und von 1944 kämpfen sie auch an der „zweiten Front“. Die berühmteste von ihnen ist das Geschwader Nr. 303, das Kosciuszko-Geschwader. In der „Schlacht um England“ 1940 schießt diese Einheit 126 deutsche Flugzeuge ab, mehr als jede andere Schwadron des Fighter Command. Lynne Olsen und Stanley Cloud haben darüber ein Buch geschrieben: „A Question of Honor. The Kosciuszko Squadron: Forgotten Heroes of World War II“ (Alfred A. Knopf, 2003), das in den USA zum Bestseller wurde.

Mit britischer Ausrüstung und unter britischem Befehl, doch politisch ihrer Exilregierung unterstellt, sind polnische Bomber an fast jedem größeren Eingriff des Bomber Command beteiligt. Als Marshall Harris im Mai 1942 tausend Maschinen zum Großangriff auf Köln schickt, sind mehr als hundert polnische Besatzungen dabei. Insgesamt kommen bis 1945 etwa tausendfünfhundert polnische Bomber-Flieger ums Leben. Gegen Kriegsende kämpft nur noch das Geschwader 300. Im Februar greift das Geschwader Dresden an. Seine letzte Aufgabe ist es, am 25. April 1945 Hitlers Hauptquartier in Berchtesgaden zu bombardieren.

Die meisten dieser tausendfünfhundert Gefallenen werden (oft nur symbolisch) auf dem Militärfriedhof in Newark bei London beigesetzt. Wie auf allen polnischen Soldatenfriedhöfen des Zweiten Weltkrieges im Westen – die vom Tobruk in Nordafrika, durch Monte Cassino bis nach Falaise in der Normandie zerstreut sind – stehen dort neben katholischen und orthodoxen Kreuzen auch jüdische Stelen. So sind diese Friedhöfe die letzten Spuren einer Polnischen Republik, die es nicht mehr gibt: jener Heimat vieler Völker und Religionen, die ihre Minderheiten oft wie eine Stiefmutter behandelte – und dennoch ein Vaterland war, für das sie, von niemandem gezwungen, kämpften und starben.

Keiner der polnischen Soldaten wird nach dem Krieg zu der Siegesparade in London im Juni 1946 eingeladen. Die britische Regierung wollte damals den Verbündeten Stalin nicht verärgern. Als Vertreter aller möglichen alliierten Länder – darunter Chinesen, Gurkha und Persier – den Times Square entlangmarschieren und His Majesty King George VI. grüßen, stehen einige polnische Piloten auf dem Bürgersteig in der Menschenmenge – in Zivilkleidung. Auch Witold Urbanowicz, ein Top-Jäger des „Squadron 303“, der im Herbst 1940 mehr deutsche Bomber abgeschossen hat als irgendein RAF-Pilot, beobachtet die Parade – und weint.

Bald wurde die 250.000 Mann starke polnische Armee im Westen aufgelöst. Ihre Soldaten hatten geglaubt, an der Seite der Alliierten Polen von Hitler und Stalin befreien zu können. Sie hatten falsch geglaubt. Und sie werden schnell vergessen. Zuerst von der Presse, die noch 1940 „polnische Jungs“ als „unsere Helden“ feierte und 1944 schrieb, dass die Polen „London retteten“. Damals, im Juli 1944, wurden Teile der deutschen Rakete V-2 nach London gebracht, nachdem ein Exemplar der „Wunderwaffe“ im besetzten Polen von der Untergrundarmee (Armia Krajowa) erbeutet und mit einem Transportflugzeug, das in der Nacht auf einer Wiese bei Krakau landete, ausgeflogen wurde.

Jetzt aber sind polnische Piloten, Matrosen, Fallschirmjäger und Panzersoldaten nicht mehr gebraucht – und nicht mehr erwünscht. Sie stören, weil sie daran erinnern, das für Polen, einst den „ersten und treusten Verbündeten“, der Zweite Weltkrieg verloren ist – bis 1989.

Jozef Zubrzycki kehrte nach Polen zurück, wenngleich er Angst hatte vor den Kommunisten. Bis heute hat er sein Tagebuch aus England aufbewahrt. Manchmal liest er darin. Kurze Vermerke, keine Details, keine Emotionen. Am Ende der Aufzeichnungen stehen die Adressen seiner Kameraden. Telefonnummern, die er längst nicht mehr anwählt. Die meisten Männer leben ohnehin nicht mehr.

Noch im April 1945 hat er Potsdam und Berlin bombardiert. Zubrzycki erinnert sich: „Ich schaute auf die zerstörten deutschen Städte. Was habe ich gefühlt? Freude war es nicht. Es war eine Erleichterung, dass der Krieg endlich zu Ende geht. Gewissensbisse? Ich hatte keine. Die Rechnung war damals einfach: Wir zerstörten Berlin für unser zerstörtes Warschau. Das waren Bomben für unser Leid.“

WOJCIECH PIECIAK, Jahrgang 1967, ist Germanist und Leiter des Ausland-Ressorts der polnischen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny. Er lebt in Krakau