piwik no script img

Archiv-Artikel

Rückkehr in Gedanken

Erfreulich geringe Akzeptanz der Realität: Die neuere palästinensische Literatur versucht die existenziellen Fragen der Literatur mit der kollektiven Erinnerung an die Geschichte zu verbinden

VON MARTIN ZÄHRINGER

Die Beziehungen zwischen der israelischen und der palästinensischen Gesellschaft sind beherrscht von der Nichtwahrnehmung des Anderen. Das ist der Eindruck, wenn man die jeweilige Literatur zur Kenntnis nimmt. Den Anderen gibt es meist nur als Objekt kompromissloser Feindschaft oder als Subjekt von Gewalt und Unterdrückung.

Alain Gresh, Chefredakteur der Wochenzeitung Le Monde diplomatique, hat die Unfähigkeit zur Wahrnehmung des Leids der Anderen in seiner Chronik „Israel – Palästina. Die Hintergründe eines unendlichen Konflikts“ (Rotpunktverlag Zürich) als ein Kernproblem des Konflikts bezeichnet. Je verfahrener der Konflikt, je enger die Perspektiven, desto exklusiver der Blick auf die eigene Leiderzählung: Auf der Seite der Israelis die Shoah, die Alain Gresh als (ein) Legitimationsargument für die Staatsgründung im Jahr 1948 diskutiert; in deren Folge steht auf Seiten der Palästinenser die Nakba, das kollektive Trauma von Vertreibung und Niederlage. Beide Begriffe, Shoah wie Nakba, lassen sich mit dem Wort „Katastrophe“ übersetzen, unterliegen aber jeweils einem einseitigen Tabu und sind zwischen den Interpreten nicht kommunizierbar. Sie sind exklusive Zeichen für die Einmaligkeit der eigenen Opferrolle und des eigenen Leids, wobei sich die literarischen Versionen der Nakba erst langsam herausbilden.

Einen möglichen kulturellen „Sinn“ dieser unvergleichbaren Zeichen hat der palästinensische Dichter und Publizist Mahmoud Darwish in einem Interview-Band, der bezeichnenderweise „Palästina als Metapher“ (Palmyra Verlag) heißt, als Frage formuliert: „Wem von uns gebührt heute der Status des Opfers?“. Darwish, der bis 1993 der PLO angehörte, versucht als Repräsentant der Poesie, Auswege aus den erstarrten Rollenmustern zu finden: „Ich habe dem Anderen oft im Scherz gesagt: Vertauschen wir doch unsere Rollen. Ihr seid ein siegreiches Opfer, gespickt mit Nuklearsprengköpfen. Wir sind ein der Herrschaft unterworfenes Opfer, gespickt mit poetischen Köpfen.“

Die meisten Dichter haben das Ausschlussverfahren allerdings lange fortgesetzt. Die palästinensische Literatur handele von der „palästinensischen Sache“, so Darwish, „und schweigt zum Menschlichen in diesem Volk, zu seiner Existenz und zu seinen Fragestellungen“. Und die Darstellung dieser Sache wiederum, des verzweifelt angerufenen Eigenen, beruhe auf einer Ästhetik der Verdrängung.

Ein Musterbeispiel für die einstige „Literatur der Sache“ ist die meisterhafte Kurzgeschichte „Der Mann, der nicht starb“ des 1972 ermordeten Schriftstellers Ghassan Kanafani. Darin geht es um den „Herrn Ali“, einen palästinensischen Großgrundbesitzer, der entgegen den Warnungen seiner Pächter das Land verkauft, an die Zionisten. Diese Geschichte (neu publiziert in einer Auswahl mit arabischen Geschichten beim Lenos-Verlag) bezeichnet das literarische Dilemma, das Darwish in seinem aktuellen Gedichtband „Wo du warst und wo du bist“ (A1 Verlag) poetisch formuliert: „Schreib nicht mit Gedichten die Geschichte …“ heißt dort eines der nachdenklichen Gedichte, „ … allein der Historiker ist die Waffe.“ Wenn die Literatur, wie gehabt, in erster Linie als Gedächtnis der Geschichte auftritt, sieht Darwish für sie die Gefahr, dass sie „nur ein endloses politisches Dokument“ wird. Deshalb fordert er, dass die Literatur „ihre Themen vermenschlichen und vom Objekt, Palästina, zum Subjekt, dem Palästinenser, übergehen muss.“

Wie neuere palästinensische Romane zeigen, ist die palästinensische Literatur inzwischen tatsächlich dabei, sich neu über ihre Rolle zu verständigen. Einen erfolgreichen Brückenschlag zwischen den existenziellen Fragestellungen der Literatur und der kollektiven Erinnerung an die Geschichte vollzieht etwa der libanesische Romancier Elias Khoury mit „Das Tor zur Sonne“. Dieser Roman setzt sich zentral mit der Vertreibung und der Flucht der Palästinenser im Jahr 1948 nach der Staatsgründung Israels auseinander. Die Historie gibt es hier nicht, stattdessen eine Verdichtung der subjektiven Wahrnehmung der Ereignisse. „Das Tor zur Sonne“ ist das Modell eines vielstimmigen und damit kritischen historischen Gedächtnisses. Doch es gibt auch den exemplarischen Versuch einer Annäherung an die Wahrnehmung des Anderen: Eine palästinensische Großmutter aus dem Flüchtlingslager Schatila/Beirut erfährt beim Besuch ihres geliebten Steinhauses in der Heimat, dass die jetzt dort lebende Jüdin selbst das Opfer einer Vertreibung ist – nach dem israelischen Angriff im Jahr 1982 musste sie das jüdische Viertel in Beirut verlassen. Khourys Urszene der Rückkehr, ein poetischer Fall des dialogischen Prinzips, setzt auf das grenzüberschreitende Potenzial von Literatur.

Die Rückkehr der 1948 vertriebenen Palästinenser ist auch das zentrale Thema in dem neuen Roman der palästinensischen Autorin Sahar Khalifa. Khalifas frühere Romane zeichnen sich durch eine kritische bis radikale Subjektivität aus, oft motiviert von den Fragen der Geschlechterbeziehungen in der palästinensischen Gesellschaft. In „Die Verheißung“ (Unionsverlag) subjektiviert sie allein die Männerrolle. Der Palästinenser Ibrahim kehrt an die Orte seiner Jugend zurück. Er sucht die von ihm verlassene Mariam, eine Christin, vor allem aber sucht er seinen Sohn, den er als Erben seines Vermögens einsetzen will. Über einem strategisch aufgebauten Handlungsraum in Jerusalem, Ramallah und Nazareth entfaltet sich die vergebliche Geschichte einer erotischen Wiederannäherung, zugleich eine subtil gewobene Geschichte der Wahrnehmung. Khalifa hat am gelungensten realisiert, was man als „subjektive Wende“ in der palästinensischen Literatur bezeichnen könnte. Dennoch endet der Roman von Ibrahims Rückkehr in einer Katastrophe, in einer blutigen Straßenschlacht auf dem Tempelberg, dem Beginn der Aksa-Intifada im Jahr 2000.

In Farouk Wadis Romanessay „Die Häuser des Herzens“ (Verlag Donata Kinzelbach) beschreibt ein Schriftsteller die bittere Wiederbegegnung mit seiner Geburtsstadt Ramallah. Der politische Flüchtling darf die Stadt infolge des Oslo-Abkommens von 1993 nach dreißig Jahren im Exil erstmals wieder besuchen. In einem zwischen Erzählung und Essay changierenden Text, der auch viel über die lokale Geschichte von Ramallah und der Schwesterstadt al-Bireh verrät, nähert sich der Erzähler dialogisch-diskursiv dem Trauma der Nakba. Das historische Ereignis mit seinen Folgen wird in dem Moment „real“, als sich die universalen Bilder seiner Erinnerung, die Bilder des Lebens vor der Nakba, in eine spezifisch arabische Welt verwandeln, die er aber nicht mehr als Realität kennt. Die Erinnerungsbilder dieser vergangenen Identität werden allerdings brutal abgelöst. Sie werden ersetzt und besetzt von der israelischen Präsenz, den Kontrollpunkten und bewaffneten Siedlungen. Die subjektiven Möglichkeiten des schreibenden Rückkehrers, eine objektive Annäherung an diese Realität zu erreichen, sind gering: „Die Eroberer lesen die Geschichte nicht. Welchen Sinn hat das Lesen, wenn es im totalen Widerspruch zu dem Drang nach Eroberung, Expansion und Besiedlung steht?“

Obwohl die Dokumente eine andere Sprache sprechen, gilt in der Öffentlichkeit Israels die Version vom freiwilligen Abzug der Palästinenser im Jahr 1948. Wer quertreibt, muss mit Konsequenzen rechnen. Ilan Pappe etwa, ein Vertreter der „Neuen Historiker“ an der Universität Haifa. Er deckte vor kurzem ein akademisches Vertuschungsmanöver um das Tantura-Massaker an unschuldigen Palästinensern im Jahr 1948 (Katz-Affäre) auf und schlug dann auch noch eine Vorlesungsreihe über die Nakba vor. „In meiner Uni ist das Häresie“, entsprechend wurde er vom Dekan auf Ausschluss verklagt. Die „Vertreibung“ ist in Israel ein Tabuthema, es wäre das Eingeständnis einer Schuld und hätte Konsequenzen. Die „Rückkehr“ der vertriebenen Palästinenser aber ist dem gleichen Tabu unterworfen. In den neueren Palästina-Romanen spielt sie eine zentrale Rolle. Die Steinhaus-Szene in Khourys Roman ist ein oft bemühter Heimat-Topos in der palästinensischen Literatur.

Die im Libanon geborene Berliner Übersetzerin und Literaturvermittlerin Leila Chammaa verweist mit Blick auf die neuere, meist noch nicht in Übersetzungen zugängliche Literatur auf eine Tendenz, die sie als „Rückkehr-Literatur“ bezeichnet. Gerade in den Debatten der Neunzigerjahre wurde die Rückkehr heftig diskutiert. Da standen sich auch die Exilrückkehrer der PLO und die Akteure der Intifada von 1987 mit schwer vereinbaren Ansprüchen gegenüber. Der Schriftsteller Ghassan Zaqtan fasst das Phänomen in einem Debattenbeitrag für die Zeitschrift Al-Karmel allerdings in eine fast poetische Gleichung: „Ein wenig Auferstehung und ein wenig Paradies, das ist die Gleichung von Rückkehr und Heimat.“ Die „Rückkehr“, zumindest die in der Literatur, stellt sich als fragiler Fluchtpunkt neuer Identitäten dar, als „ein kollektives Gut, als Staatsgebiet, öffentlicher Garten, Berge, die niemandem gehören, als eine Volksgeschichte zum Weitererzählen und Ausschmücken“, so Zaqtan.

Für die Literatur geht es um Einschließungen, um mögliche Annäherungen. Im Frühjahr 2003 hat Sahar Khalifa in Deutschland mit dem israelischen Schriftsteller Yitzhak Laor eine Lesereise unternommen. Elias Khourys Roman wurde ins Hebräische übersetzt. Die „Neuen Historiker“ in Israel bemühen sich um eine Aufarbeitung der Nakba, und die Literatur der Palästinenser wendet sich einer Realität zu, die auch die Realität der Anderen ist. „Ich bin sehr realistisch, aber ich akzeptiere die Realität nicht so, wie sie ist“, sagt Sahar Khalifa. Für das Schreiben gibt es wohl keine geeignetere Grundlage als die nicht akzeptierte Realität. Zu dieser Realität gehört auch das Dogma vom Ausschluss des Anderen.