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Archiv-Artikel

Die Beduinen sind wir selbst

Garantiert ohne arabischen Fundamentalismus, deshalb umso brisanter: Der arabische Schriftsteller, gelernte Ökonom und Erdölexperte Abdalrachman Munif liefert mit seinem Großroman „Salzstädte“ die Chronik des Strukturwandels einer ganzen Region, eine Geschichte des Öls aus arabischer Sicht

Seitdem sie in unsere Gegend gekommen sind, ist das Leben wie Kamelpisse geworden

von MARTIN ZÄHRINGER

Abdalrachman Munif hat Kultstatus beim anspruchsvollen arabischen Publikum. Obwohl die fünf Bände „Salzstädte“ in Saudi-Arabien verboten sind und zollamtlich gesucht werden wie Drogen oder Sprengstoff, kommen sie in Großauflagen unters Volk. Munif trifft eben den Ton. Außerdem kennt er die Fakten. Er kommt vom Fach, vom Öl, und um die Eroberung des Öls geht es in dieser Geschichte. Als Ökonom promovierte Munif auf dem Gebiet der Erdölwirtschaft, war als Berater für die Opec und als Chefredakteur einer arabischen Fachzeitschrift der Erdölwirtschaft tätig. Als Schriftsteller liefert er mit den „Salzstädten“ die Chronik des Strukturwandels einer ganzen Region, die Geschichte des Öls aus arabischer Sicht. Diese zwei Aspekte seiner Autorschaft gehen eine perfekte Messalliance ein: eine unermüdliche epische Darstellungslust, die klar und lebhaft die arabische Szenerie herausdestilliert, wird feinstens ausgesteuert vom Anspruch des konkreten Expertenwissens. Und das beruht auf einer fachtypisch globalen Perspektive. Also kein arabischer Fundamentalismus, und deshalb umso brisanter.

Munif versteht sich in erster Linie als Literat, aber auch als als Warner, und seine Prophezeiungen tendieren dazu, richtig zu sein. Die Hauptkritik zielt auf die Existenzbedingungen einer aufgesetzten und sterilen Pseudo-Moderne, von der nur wenige profitieren, kristallisiert in seinem Sprachbild der Salzstädte. Dem Buch vorangestellt als Motto des Autors: „Salzstädte sind Siedlungen, die keine dauerhafte Existenz ermöglichen. Wenn Wasser eindringt, lösen schon die ersten Wellen das Salz auf, und diese großen, gläsernen Städte versinken im Nichts.“

In diesem Band geht es um ihre Gründerzeit. Am Anfang war das Paradies, berühmt und unberührt die Oase Wadi al-Ujun, das Tal der Wasserquellen irgendwo am Persischen Golf, die Vertreibung kommt mit den Amerikanern, mit der Entdeckung des Öls, und die Neuansiedlung in der Hafenstadt Harran führt die Beduinen in eine neue Epoche ihrer Geschichte. Hier soll einmal die Pipeline aus dem Wadi enden und unermesslichen Reichtum bringen, für alle. Zunächst bringt sie die Welt der Lohnarbeit und eine Umwandlung der Gesellschaft, deren Werden am Beispiel von Harran beschrieben wird. Und zwar sehr genau, sehr bildhaft und wirklich mitreißend, vor allem durch die klaren Darstellungen der vielfältigen sozialen Beziehungen dieser neuen Welt.

Es empfiehlt sich, bei den Phasenwechseln genau aufzupassen und sich beim Auftritt neuer Figuren möglichst die Namen einzuprägen. Erleichtert wird das durch Munifs Strategie der antagonistischen Paarbildung und durch das erläuterte Personenverzeichnis vorne im Buch. Plastisch erscheint es auch, dieses modernisierte Harran – am Nordhang das Geld, am Westhang die Politik, dazwischen ein arabisches Dorf, und etwas abseits die Arbeitercamps der „Firma“. Gegeben wird der Einzug der „Moderne“ als allseits um sich greifende Plünderungsmaschine. Die Amerikaner haben den Plan, die Notabeln der Stadt machen das, was sie immer und überall machen – sie definieren zielbewusst das neue Leben durch die grundsätzliche Klärung der Besitzverhältnisse, und die Beduinen werden schlichtweg überrumpelt.

Munif übernimmt ihre Sicht, und ihre Perspektive der totalen Ahnungslosigkeit ist eines der wesentlichen Merkmale der Eröffnung dieses Großromans. Aber Vorsicht mit der interkulturellen Lesebrille. Munif hat eben auch einen Plan. Westlichen Lesern wird hier – vordergründig und ein wenig perfide – ein mitwisserisches Gefühl der Überlegenheit vorgetäuscht: Vom fleißigen Anthropologen zum wummernden Radiokasten, von der gelben Planierraupe zum Fernrohr, das den frohen Emir und seine Genossen an den Skandal des nackten Fleisches fesselt, ist uns ja alles so bekannt wie das Phänomen der käuflichen Liebe, das sie dort drüben auf dem Nuttenschiff der Amis erblicken. Natürlich ohne die konkreten Hintergründe der Tauschbeziehungen zu erahnen. Die farbenprächtigen, leicht bekleideten Damen bringen den gesamten Sinnes- und Sinnkosmos der arabischen Männer durcheinander – das Begehren gerät aus dem Lot wie eben das ganze Leben.

Gerade solche Phänomene einer abgestürzten Sinnlichkeit tragen Munifs Ästhetik der Befremdung. Es gibt sie zuhauf, vor allem auch jenseits des Sexus. Dargestellt wird die abgrundtiefe Veränderung der Lebenswelt als radikaler Körperschock. Ihn erlebt auch Mut’ib Haddal, der als Erster begreift, was da anmarschiert. Zuerst kann er sich tagelang nicht von der Beobachtung der Fremden lösen, dann fällt er in einen Erstarrungszustand, weil seine Warnungen nicht anschlagen. Und weil er die Trennung vom Wadi gar nicht erträgt, verwandelt er sich in ein mystisches Gespenst auf weißem Kamel, was allerdings eine kämpferische und bedrohliche Lichtgestalt ergibt. Dieser einfache Beduine vom Stamm der Utum hat es früh begriffen: „Euer Exzellenz, bevor diese Teufel kamen, ging es uns vortrefflich“, höhnte Mut’ib Haddal. „Aber seit dem Tag, an dem sie in unsere Gegend gekommen sind, ist das Leben wie Kamelpisse geworden. Und jeden Tag wird es schlimmer.“

Trotzdem, ein wunderbares Buch – jenseits aller Wüstenromantik, mit anderen faszinierenden Perspektiven als dem Blick auf Sanddünen vom Kamelrücken aus. Zum Beispiel auch der überraschenden, dass wir hier nicht so sehr aufgefordert sind, diese Beduinen zu verstehen, womöglich als Leser eines Geschichtswerkes. Geschichte macht er schon, Abdalrachman Munif, aber was wir leicht auch lernen könnten: Die Beduinen sind wir selbst.

Abdalrachman Munif: „Salzstädte“. Aus dem Arabischen von Magda Barakat und Larissa Bender. 560 S., Diederichs Verlag, 24,95 €