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Archiv-Artikel

Castorf spielt Hartz III und IV

Vor der Abstimmung über die Arbeitsmarktgesetze am 17. Oktober gibt Rot-Grün eine wirklich große Theatervorstellung, bei der eines schon jetzt unumstößlich feststeht: Die eigene Mehrheit im Bundestag ist sicher – egal wie die Abstimmung ausgeht

aus Berlin JENS KÖNIG und LUKAS WALLRAFF

Die rot-grüne Mehrheit für die Bundestagsabstimmung am 17. Oktober steht. Felsenfest. Vermutlich jedenfalls. Höchstwahrscheinlich sogar. Mit ziemlicher Sicherheit …

So geht das jetzt schon seit Tagen. Das rot-grüne Gezerre über die Arbeitsmarktreformen (über „Hartz III“ und „Hartz IV“, wie diejenigen sagen, die nur Bahnhof verstehen) ist auch und zuallererst eine beeindruckende Propagandavorstellung zum Thema „Deutungshoheit über einen politischen Stillstand, der dadurch gekennzeichnet ist, dass sich alle unaufhörlich aufeinander zubewegen“. Die Führungsleute von SPD und Grünen sagen bereits vor jeder Art von Verhandlung, dass sie optimistisch seien für den 17. Oktober und die rot-grüne Mehrheit stehe. Die Kritiker von SPD und Grünen sagen nach diesen Nullsätzen, dass sie gehört hätten, es bewege sich etwas, das mache sie optimistisch, schließlich wolle keiner den Kanzler stürzen, aber über ihr Abstimmungsverhalten könnten sie erst etwas sagen, wenn die Gesetzesänderungen schriftlich vorlägen, aber auch danach bräuchten sie noch mal ein bisschen Zeit zum Nachdenken.

Großes Theater. Richtig schön absurd. Castorf mit einem Schuss Schlingensief.

Auch am gestrigen Montag wurde dieses grandiose Schauspiel geboten, obwohl es ausnahmsweise mal ein Tag war, an dem sich wirklich etwas bewegt hat. Gerhard Schröder, 10 Uhr, vor der SPD-Präsidiumssitzung: „Unser Land braucht diesen Reformerfolg und braucht ihn jetzt. Ich gehe davon aus, dass die Koalition ihn geschlossen und gemeinsam sicherstellen wird.“ SPD-Generalsekretär Olaf Scholz, 12 Uhr, vor der entscheidenden Koalitionsrunde: „Unsere Anstrengungen zeigen, dass die sowieso schon überzeugenden Gesetze Hartz III und Hartz IV noch überzeugender werden.“ Horst Schmidbauer, einer der SPD-Abweichler, hatte den Reigen am frühen Morgen eröffnet, 7.20 Uhr, Deutschlandfunk: „Ich sehe schon die Chance, dass wir uns aufeinander zubewegen können. Ich möchte die Dinge aber schwarz auf weiß sehen, und ich will mir da auch die genügende Auszeit nehmen, um die Fragen ausreichend prüfen zu können.“

Das Ganze läuft wahlweise unter dem Titel „Die Woche der rot-grünen Entscheidung“ oder „Die Stunde der Wahrheit“. SPD-Fraktionschef Franz Müntefering hatte schon am Sonntag einen der wenigen wirklich gültigen Sätze dazu gesagt: „Das ist ’ne lange Stunde der Wahrheit.“ Dabei hatte Müntefering für einen Moment den Blick auf das rot-grüne Politikverständnis freigegeben. Er erklärte, warum er die sechs SPD-Abweichler „feige“ und „charakterlos“ genannt hatte: „Da gab es bei mir eine große persönliche Enttäuschung, die habe ich da herausgelassen. Ab und zu ist man ja auch Mensch, aber das ist jetzt hinter uns.“

Am Montagmittag, als alle wieder Politiker waren, haben sich SPD und Grüne in einer Koalitionsrunde dann tatsächlich auf Nachbesserungen der Arbeitsmarktgesetze geeinigt. Natürlich sagte der SPD-Generalsekretär zum dreiundsiebzigsten Mal, er gehe von einer eigenen Mehrheit … usw usf. Aber Scholz entzog gleichzeitig dem Theater der vergangenen Tage das dramatische Fundament. Es habe mit den Abweichlern von SPD und Grünen keine Verhandlungen über ihre Änderungsvorschläge für die Hartz-Gesetze gegeben, sagte er. Es hätten lediglich die üblichen Gespräche im Rahmen eines normalen Gesetzesverfahrens stattgefunden. „Ich wage mal folgende Prognose“, sagte Scholz. „Die jetzt von uns vorgeschlagenen Änderungen hätte es auch ohne den Rummel der vergangenen Tage gegeben, weil diese Veränderungen in der Sache geboten waren.“

Die Schreiners und Skarpelis-Sperks gehen also leer aus, kein Bundesverdienstkreuz dafür, dass sie geholfen haben, die Arbeitsmarktgesetze zu dem zu machen, was sie jetzt sind, nämlich „große sozialpolitische Reformen“ (Scholz). Der Generalsekretär im O-Ton: „Da gibt es nichts, wofür man jemandem danken müsste.“