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Archiv-Artikel

Wir mussten nur wollen

In der Bundesrepublik galt das Gymnasium als Sprungbrett in eine sozial gesicherte Biografie. Wo Flexibilität und Chancengleichheit gefordert sind, kann die humanistische Bildungsanstalt ihr Versprechen nicht mehr einlösen. Umso schwerer fällt der Abschied

VON SUSANNE LANG

Wir? Wir sind doch nicht das Problem. Wir sind jung, mindestens jung geblieben, auf jeden Fall jünger als verstaubte Rückwärtsgewandte, die demnächst über Fernsehformate die Rohrstock-Pädagogik zurückholen werden. Wir sind aufgeschlossen, für Gleichberechtigung, für Chancengerechtigkeit. Wir haben Abitur, wir wissen, wir müssen unser Bildungssystem reformieren. Wir sind dabei. Und während wir ja sagen, zu allem bereit, keimen plötzlich doch Zweifel auf: Wie bitte? Abschaffen? Unser gutes altes Gymnasium?

Denn plötzlich sind sie da, die Erinnerungen aus der eigenen Lebenserzählung – gar nicht so weit entfernt von den Pennälerklamotten, irgendwo zwischen Rühmanns „Feuerzangenbowle“ und Erich Kästners „Fliegendem Klassenzimmer“. Erinnerungen an das alte, historische Schulgebäude oder den 70er-Jahre-Betonklotz, an die Lichtblicke unter den LehrerInnen, ein zwei Pädagogen, die anders, besonders, motivierend waren. An die Klassenfahrt – ach weißt du noch – an die Kurswahl, den Abiturscherz, so allgemein besonders, wie Rituale sich mit der Zeit nur mehr ausprägen können. An den Glanz, den die Institution Gymnasium ausstrahlt. Und plötzlich fühlen wir uns wie der „Graduate“ Dustin Hoffman aus dem Film „Die Reifeprüfung“, der im Pool seiner Eltern auf einer Luftmatratze durch die Leere nach der bestandenen Reifeprüfung treibt – als hätte sich das Ventil geöffnet.

Gymnasium, das bedeutet weit mehr als eine Ausbildungsphase. Das Gymnasium symbolisiert seit der Nachkriegszeit den Zugang zu einer mittelständischen Lebenssicherheit, wie sie insbesondere nach der Bildungsoffensive in den 70ern für eine breite und eben auch linke Mitte der Gesellschaft gelten konnte: im freien Denken geschult, demokratisch ausgebildet mit Schülermitverwaltung und Aktionsgruppen, reif für das schöne, intelligente Leben – in dem man sich später dann bereitwillig und besorgt um ausgegrenzte hauptgeschulte Langzeitarbeitslose in Form wissenschaftlicher Konzepte annimmt.

Jeder hat doch prinzipiell die Chance, solange er bereit ist, Leistung zu zeigen und sich selbst zu Leistung zu motivieren. „Wir mussten nur wollen“, wie es sich ein diesjähriger Abiturjahrgang in Bayern nach all der Pisa-Debakel-Debatte prompt zum Motto gemacht hatte. Wer nicht wollte und vor allem nicht so, wie es in die Struktur Gymnasium passt, trägt selbst die größte Schuld.

Das Gymnasium schult nie ausschließlich die Besseren, aber das Gymnasium verschafft den Besseren Selbstbewusstsein – über eine gesellschaftlich attestierte Leistungsbereitschaft und Intelligenz, die Schüler des zweiten oder dritten Schulzweigs nur bedingt zugeschrieben wird. Diese Abgrenzung schafft schon im Schulsystem genau jene Differenz, die unsere Gesellschaft bisher strukturiert hat: auf Funktionalität ausgerichtet in klare Berufsbilder eingeteilt. Das Arztkind, der Pädagogensohn, die Rechtsanwaltstochter, das Mittelstandunternehmerkind – ihr Weg beginnt am Gymnasium, mit bereits neun oder zehn Jahren, und endet einstweilen mit dem ritualisierten Treibenlassen in der Leere nach der ersten übersprungenen Hürde namens Abitur. Bevor die berufliche Erbfolge in Angriff genommen wird oder der Hedonismus, den das Gymnasium immer auch beherbergt, weiter ausgelebt wird, gerne in Form eines geisteswissenschaftlichen Studiums – Magister, nicht Lehramt.

Diese Disziplinierung, die klare Hierarchisierung der Gesellschaft, trug im Sinne des Strukturalismus das Modell Bundesrepublik: Sie war und ist nichts moralisch Verwerfliches, sondern eine schlichte Garantie für Funktionalität. Diese ist es, die sich nun jedoch nach anderen Parametern gestalten soll: Flexibilität und Risikobereitschaft statt Standardlebensmodellen und Sicherheit. Kein Arztkind soll mehr davon ausgehen, dass es die Praxis der Eltern weiterführt. Kein Hedonist, dass die Gesellschaft schon eine Nische bereithalten wird.

Die Kritik internationaler Vergleichsstudien am deutschen Schulsystem greift nicht aus rationalen Gründen ins Leere. Sie rüttelt an einer Gesellschaftsstruktur, die sich in ein flexibleres soziales Gebilde transformieren soll: durchlässiger, nach oben in den Bildungschancen und damit einhergehend aber auch nach unten in den Abstiegsmöglichkeiten. Das Schulsystem bleibt mit der sensibelste Seismograf für das kollektive Unbehagen angesichts dieser Veränderungen. Die Gesamtschule immerhin, rufen sich einige gerne in Erinnerung, sie war doch ein guter Anfang. Über viel mehr als ein Alibi der 68er-Bewegten ist sie jedoch nie hinausgewachsen – wie sollte sie auch, solange das Gymnasium koexistiert. Die Kinder sollen es eben besser haben – ein weiterer Parameter der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die sich über stetig wachsenden Wohlstand ausbalancierte. Auch dies gilt in Zeiten von Hartz IV längst nicht mehr.

Doch vom rebellischen „We don’t need no education“ und dem Impuls, die Schulstruktur zu verbessern, ist nicht viel mehr als Schizophrenie geblieben: Ja zur Bildung, die sich mittlerweile doch konsensfähig als Schlüsselgut einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft etabliert hat. Nein zur Abkehr von herkömmlichen, also dreigliedrigen Bildungsstrukturen, aus einem Unbehagen heraus, dass mit dem Gymnasium nicht nur eine Institution abgeschafft, sondern ein identitätsstiftender Mythos und mit ihm das humanistische Bildungsideal relativiert würde. Angst vor einem Untergang in der differenzlosen „Einheitssoße“, wie CDU- und FDP-Politiker das Modell „Einheitsschule“ dementsprechend bezeichnen. Ein Unbehagen, das vor allem all jene ergreift, die selbst ein Gymnasium besucht haben, die in den Funktionen sind, an der Reform zu arbeiten, bzw. deren Aufgabe es wäre, sie zu unterstützen oder umzusetzen. Wir sind irgendwo dabei. Aber irgendwie war doch alles ganz gut an unserem Gymnasium.