: Ein Brandbrief an den Kommissar
In der EU-Kommission formiert sich Widerstand gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Bei den Kommissaren spielen finanzielle Argumente, aber auch Furcht vor einer Islamisierung Europas eine Rolle
BRÜSSEL taz ■ „Dear Günter“, beginnt der Brief, den der EU-Agrarkommissar Franz Fischler an seinen Kollegen, den für die EU-Erweiterung zuständigen Günter Verheugen schickte. Es geht um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Und trotz der freundlichen Anrede macht Fischler gewichtige Bedenken geltend.
Seine Botschaft an Verheugen lässt sich so zusammenfassen: Allein die Agrarbeihilfen für die Türkei würden – legt man die Zahlungen für Bulgarien und Rumänien als Maßstab zu Grunde – 11,3 Milliarden Euro im Jahr ausmachen, mehr als für die zehn neuen Mitgliedsländer zusammen. Die neue Verfassung berücksichtigt bei der Machtverteilung stärker als bisherige Verträge die Bevölkerungszahl und gäbe der Türkei ein unverhältnismäßig starkes Gewicht. Eine vertiefte Diskussion über die umstrittenen Fragen habe „Dear Günter“ im Kreis der Kommissare bislang verhindert.
Der Brief enthält eine deutliche Warnung an Verheugen, die Rechnung nicht ohne seine Kollegen zu machen. Während ihm bei den Verhandlungen mit den zwölf kleinen Kandidatenländern die anderen Kommissare weitgehend freie Hand ließen und mit Lob nicht sparten, wollen sie bei der Grundsatzentscheidung, ob Verhandlungen mit der Türkei beginnen sollen, ein Wörtchen mitreden. Aus Kommissionskreisen wird gar lanciert, der für 6. Oktober eingeplante Fortschrittsbericht könnte zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht werden, falls das Kollegium sich nicht auf eine einheitliche Empfehlung an den Rat einigen könnte. Verheugens Sprecher allerdings schließt eine Verschiebung kategorisch aus.
Fischler ist nicht der Einzige in der Kommission, der davor warnt, grünes Licht für Verhandlungen zu geben. In einer viel beachteten Rede wandte sich Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein sich zwar nicht explizit gegen Verhandlungen mit der Türkei. Er zeigte aber Konsequenzen auf, die vielen nicht gefallen dürften: „Wer die Türkei aufnimmt, wird auch die Ukraine und Belarus akzeptieren müssen“, sagte der Niederländer. Mit dem Traum vom föderalen Staatsgebilde sei es dann vorbei; doch die Union sei ohnehin besser beraten, sich auf ihre Hauptaufgaben zu beschränken und die Eigenständigkeit der Mitgliedsstaaten zu akzeptieren. Auch ohne Türkeibeitritt werde die demografische Entwicklung dafür sorgen, dass „Europa Teil des arabischen Westens, des Maghreb, sein wird. Sollte der amerikanische Islamexperte Bernard Lewis Recht behalten, wäre die Befreiung von Wien 1683 von der Belagerung der Türken vergebens gewesen“.
Die spanische Kommissarin Loyola de Palacio könnte ebenfalls aus dem kollektiven Geschichtsbewusstsein ihres Landes zum Thema Islamisierung einiges beisteuern. Schließlich stand Spanien mehrere Jahrhunderte lang teilweise unter muslimischer Herrschaft. De Palacio hat es bislang aber vorgezogen, ihre Bedenken hinter den verschlossenen Türen des Kollegiums zu äußern.
Sieben Kommissare würden Verheugens Bericht ablehnen, sollte er denn positiv ausfallen, heißt es in Brüssel. In den kommenden Wochen könnten noch ein paar Skeptiker aus den neuen Mitgliedsländern hinzukommen. Denn Fischlers Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Sollte beim Türkeibeitritt tatsächlich ein Finanztransfers von jährlich über 10 Milliarden Euro allein für den Agrarsektor fällig werden, können sich die derzeit ärmsten Länder der Union ausrechnen, dass für sie dann nicht mehr viel übrig bleibt.
DANIELA WEINGÄRTNER