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Deutschland bietet sehr gute Standortbedingungen für MörderGanz wichtig: unbedingt in alle Körperöffnungen schauen

VON MAREKE ADEN

Wer den nervigen Ehemann oder die schreckliche Schwiegermutter um die Ecke bringen will, wird auch Vorkehrungen gegen die entsprechende Strafe treffen. Ein schlauer Ratgeber „Der perfekte Mord“ würde daher zunächst sicher den Einsatz einiger leicht abbaubarer Gifte empfehlen. Oft erzielen auch Medikamente, die das potenzielle Opfer ohnehin schon einnimmt, in höherer Dosis die letale Wirkung. Die Grundregel für den perfekten Mord aber lautet: Lassen Sie die Tat nicht als Mord erkennbar sein, sorgen Sie dafür, dass „natürlicher Tod“ auf dem Totenschein steht. Das ist nicht so schwer zu bewerkstelligen. Schon gar nicht in Deutschland. Zehntausende haben das schon geschafft. Denn in dem Land des Schaumwein- und Zwischenerzeugnissteuergesetzes, der sorgfältig überwachten Baumschutzverordnungen, die den Bestand von Einzelbäumen mit einem Stammumfang von 60 Zentimetern regeln, und im Land, das die Immissionsrichtwerte von Biergärten festlegt, interessieren ausgerechnet Tote nicht sonderlich.

Wie ließe sich sonst erklären, dass selbst nach sehr vorsichtigen Schätzungen seit 1953 mindestens 60.000 Opfer von Tötungsdelikten gar nicht als solche erkannt worden und nicht in die Kriminalstatistiken eingegangen sind. Während sich die Ermittlungsbehörden damit rühmen, 96 Prozent aller Mordtaten erfolgreich aufzuklären, und so Sicherheit suggerieren, ist ihnen in Wahrheit jeder zweite Mord oder Totschlag entgangen. Deutschland bietet gute Standortbedingungen für Mörder.

Dazu gehört ein unübersichtliches Recht, das in den Ländern recht unterschiedlich regelt, was zu einer Leichenschau gehört. Weil Fachleute auf die Verschleierungsrate allzu störend wirken könnten, gilt prinzipiell, dass vom Allgemeinmediziner über den Augenarzt bis hin zum Gynäkologen jeder Totenscheine ausstellen darf. Wer sonst mit dem Tod nur wenig zu tun hat, Schwangerschaften untersucht oder Brillen verschreibt, hat im Zweifel wenig Interesse, zu ergründen, ob sich unter den grünlich-roten Totenflecken Hämatome verbergen, die auf einen gewaltsamen Tod deuten.

So kommt es, dass Volkmar Schneider, Professor der Gerichtsmedizin an der Berliner Freien Universität (FU), von abenteuerlichen Irrtümern zu berichten weiß. Ein Hausarzt habe einmal „natürlicher Tod“ angekreuzt, obwohl „meine Kollegen im Mund des Mannes später eine Maus fanden“, sagt Schneider. Der Mann war in Vollzug einer Obsession mit Mäusen verunfallt. Der Hausarzt hatte es unterlassen, wie vorgeschrieben auch die Körperöffnungen des Toten zu untersuchen. Das fällt auch Ärzten nicht immer leicht. Hausärzte, die am ehesten zur Leichenschau gerufen werden, müssen die Leichenschau aber auch durchführen, wenn es ihnen zuwider ist. Zum Ekel kommt die Furcht, sie könnten als Schnüffler dastehen, der nach Straftaten sucht. Viele Familien wollten noch nicht einmal, dass ein Selbstmord aufgeklärt wird, berichtet Schneider. Selbsttötungen seien noch immer anrüchig.

„Das merkt man jetzt auch wieder am Fall der berühmten Schauspielerin Jennifer Nitsch.“ Der Vater hatte öffentlich immer wieder darauf bestanden, dass der Sturz aus ihrer Wohnung ein Unfall war. Ärzte, die in solchen Fällen die Todesursache genau klären wollen, machen sich unbeliebt. Das wirkt sich ungut auf die Patientenkartei der Praxis aus. Auf ihre lebenden Patienten sind Ärzte aber finanziell angewiesen im Gegensatz zu den Verdiensten aus einer Leichenschau, mit der sie selten mehr als 100 Euro verdienen.

Anders sieht das Dilemma für Rettungsärzte aus. Sie kommen in Notfällen zum Einsatz. Ihr Problem ist daher der Zeitverlust, den eine Leichenschau bedeutet. Entweder müssen sie mit den trauernden Angehörigen reden und sie ärztlich versorgen. Oder – wenn keine Verwandten am Totenbett trauern – feststellen, wer ihnen da unter der Hand weggestorben ist. Zur Identitätsfeststellung machen sie sich dann auf die Suche nach Reisepässen oder Krankenkassenkarten.

Solange sie das tun – und Michael Toursarkissian spricht von 30 Minuten –, sind sie nicht im Einsatz. „Das ist nervenaufreibend“, sagt er. Denn Rettungskräfte wissen, dass für die 3,4 Millionen Einwohner Berlins nur 15 Notarztwagen unterwegs sind. In jeder Minute, die sie sich mit dem Toten beschäftigen, können sie kein Leben retten. Das wäre aber eigentlich ihre Aufgabe, dazu wären sie in der Lage. Die Befähigung, eine Todesursache schnell zu erkennen, scheidet bei Notärzten dagegen aus einfachen Gründen aus: „Ich kenne den Toten nur einen Sekundenbruchteil“, sagt zum Beispiel Michael Toursarkissian. Es ist der Bruchteil, in dem er den Sterbenden sieht und anfängt, lebensrettende Maßnahmen einzuleiten, bis zum Tod.

In den meisten Fällen kreuzen die Notärzte auf dem Totenschein „ungewiss“ an, in den seltensten „natürlicher Tod“. Erst wenn ein 90 Jahre alter Mann stirbt, der kurz zuvor über Brustschmerzen geklagt und schon drei Herzinfarkte hinter sich hat, worüber die neben ihm liegenden Tabletten und der telefonisch erreichbare Hausarzt Auskunft geben: Ja, in dem Fall, könne man sich für ein Kreuz unter „natürlicher Tod“ entscheiden. Aber das seien glückliche Umstände, sagt Toursarkissian.

Glückliche Umstände sind das auch für Mörder. Denn auch wenn sich Ärzte damit zurückhalten, einen Toten durch ihr Kreuz bei „natürlicher Tod“ zur Bestattung ohne weitere Ermittlung freizugeben: Polizisten, die nur deswegen zur Tat schreiten müssen, weil Ärzte zu wenig Vorauswahl getroffen haben – sei es Zeitnot oder Ekel –, haben kaum das nötige Engagement. Auch sie machen oft nicht mehr, als ein paar Formulare auszufüllen. Ihr Einsatz wird zur Routine. Gerichtsmediziner, Ärzte und Kriminologen beklagen das alles schon lange.

Jetzt hat es erste Änderungen gegeben: In vielen Bundesländern werden die Bedingungen für die Ärzte nach und nach geändert. In vielen Ländern sind Notärzte inzwischen beispielsweise berechtigt, einen „vorläufigen Totenschein“ auszustellen. Das bedeutet, dass sie nur noch den Tod und seinen Zeitpunkt festhalten. Genauer untersucht wird der Tote dann von einem Arzt, der mehr Zeit hat. Einige Länder haben zwar eilig ihr Bestattungsrecht geändert, sich aber schnell in absurden Debatten verfangen wie der, wie viel Sargzwang sein muss oder wie viel ein totgeborener Fötus wiegen muss, damit er beerdigt werden kann. Vorschläge zur Verbesserung der Leichenschau schmetterte der nordrhein-westfälische Landtag beispielsweise ab und regelte stattdessen, wo die Asche nach der Feuerbestattung ausgestreut werden darf.

Nur in Bremen, Brandenburg und Berlin führt nicht mehr jeder x-beliebige Arzt die Leichenschau durch, sondern nur einige speziell ausgebildete. Berlin hat einen Leichenschaudienst eingerichtet mit rund 100 Ärzten. In ihren Bereitschaftsdiensten fahren sie zu jeder Leiche, zu der sie gerufen werden. Sie sind zwar keine ausgebildeten Gerichtsmediziner, kommen aus allen möglichen Fachrichtungen und führen oft neben dem Dienst ihre Praxen weiter. Aber sie werden immerhin mehrere Tage im Jahr geschult. Damit sind sie zumindest eher gegen drängelnde Angehörige und Polizisten gewappnet und werden mehr darauf beharren, dass der Tod geklärt wird.

Für die Mörder unter uns ist das ein Schritt Richtung Gefängnis. Aber nur ein kleiner. Volkmar Schneider von der FU Berlin findet, dass nach wie vor viel zu wenige Leichen in Deutschland seziert werden. Als vorbildlich bezeichnet er das System der DDR: „Dort war nicht alles schlecht“, sagt der Professor. Auch ohne ein Gericht einzuschalten, konnte ein DDR-Amtsarzt eine Leichenschau in Auftrag geben. So wurden 30 bis 40 Prozent aller Leichen seziert, gegenüber 1 bis 2 Prozent in der BRD. In der DDR wurden daher nicht doppelt so viele Kinder getötet wie in Westdeutschland, wie die alten Statistiken glauben machen. Man fand es nur häufiger heraus. Dass dergleichen nach den Reformen der Bundesländer passiert, ist nicht zu erwarten. An der Gerichtsmedizin soll allerorten gespart werden. Viele Institute in Deutschland sind von der Schließung bedroht. In Berlin werden die rechtsmedizinischen Institute von Charité und Benjamin-Franklin-Klinikum zusammengelegt, in Potsdam soll die Gerichtsmedizin ganz dichtgemacht werden, in Sachsen-Anhalt sollen Stellen gespart werden, in Niedersachsen ist das Institut in Göttingen bedroht, Nordrhein-Westfalen leistet sich nur noch zwei für 18 Millionen Einwohner. Wenn es endlich so weit ist, dass nur noch Fachleute die Leichenschau durchführen, werden nicht mehr genügend Gerichtsmediziner zur Verfügung stehen, um in Verdachtsfällen zu sezieren. Ein Mörder müsste zwar den Arzt mehr fürchten, der sein Opfer das erste Mal sieht. Aber es wird kaum noch jemand da sein, das Gift tatsächlich medizinisch nachzuweisen.