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Archiv-Artikel

Hoffnung lebt allein noch in Istanbul

Kunst als Flugblatt: Ayse Erkmens tierische Bilder bringen nach Bremen zurück, was nach Bremen gehört

Es ist das Flugblattverteilerdilemma: Viele Passanten im Sog der Sögestraße sind einfach zu sehr in Eile, um die Blätter zu nehmen, die ihnen die zwei freundlichen jungen Frauen reichen. Es gibt aber auch andere, die beim Betrachten der großformatigen Zettel verblüfft stehenbleiben.

Auf den textfreien Flugblättern sind jeweils ein Esel, eine Hund, eine Katze oder ... jawohl, ein Hahn abgebildet. Auf der Rückseite finden sich das türkische und das deutsche Wort für das Tier sowie der Zusatz „Istanbul“. Verwirrt stecken die Betrachter die Flyer ein und setzen ihren Weg fort. Schnell sind sie wieder im Strom der anonymen Shopper untergetaucht. Kaum jemand weiß, dass die Tierfotos, die hier so unauffällig unter das Bremer Volk gebracht werden, Kunstwerke sind.

Die türkische Künstlerin Ayse Erkmen hat die vier Bremer Urviecher in den Straßen Istanbuls fotografiert. Diese Bilder werden jetzt jeden Nachmittag zwischen vier und sechs in der Bremer Innenstadt verteilt – jeweils ein Tier pro Tag. Die Aktion ist eines von 16 Einzelvorhaben, die unter dem Titel „Niemand ist eine Insel“ zusammengefasst sind. Initiator dieses Projekts ist die „Gesellschaft für Aktuelle Kunst“ (GAK). Durch Erkmens Bilder sollen die Menschen das Bekannte an fremden Orten entdecken.

Der Bremer an sich nimmt diese kurzzeitigen kulturellen Interventionen gelassen hin. Aber es gibt auch die Sammler, die auf Nachschub lauern: „Na, welches Tier gibt‘s denn heute?“

Eher selten kommt es zu Zwischenfällen. „Seid ihr vom Tierschutz?“, werden die Verteilerinnen gelegentlich gefragt. „Die Aktion ist mir zu banal“, doziert ein Passant. „Da hätte man mehr draus machen müssen.“

Für ihn sei die Hoffnung auf ein besseres Leben – symbolisiert durch die Bremer Stadtmusikanten – nicht mehr zu erfüllen. „Der Liberalismus, den die Tiere in Bremen gesucht haben, lässt sich unter Henning Scherf nicht mehr finden. Vielleicht noch in Istanbul. Ja, das ist ja liberaler. Das ist ja eine Weltstadt.“ Spricht‘s, steckt den Esel in seine Tasche und zieht von dannen.

Tim Ackermann