berliner szenenSehnsucht der Jugend

Milchreis statt Kluge

Ein paar Tage war die Nichte mit ihrem Freund zu Besuch. Beide machen demnächst wohl ihr Abi, drüben in Westdeutschland. Als zu Hause arbeitender Alleinwohner nimmt man sich plötzlich selbst durch die Augen der Besucher als komischen Onkel wahr. Wir aßen Milchreis mit Zimt und Zucker, weil Kinderessen jedem schmeckt, und guckten „Tatort“. In dem Tatort ging es um eine Gruppe ehemaliger Linksradikaler, die vor dreißig Jahren bei irgendeiner Aktion einen Wachmann erschlagen hatten. Das Verbrechen wurde nie aufgeklärt. Die ehemaligen Linksradikalen haben nun bürgerliche Berufe und werden erpresst. Der main character ist ein gescheiterter und geschiedener Melancholiker, dem seine Frau vorwirft, sich nie um seinen Sohn gekümmert zu haben. Das Politische taucht in dem Film eher als wahnhafter Irrsinn auf. Obgleich die Helden 15 Jahre älter sind als man selbst, fühlt man sich auf so eine peinliche Weise ertappt, wenn sie da rumsitzen, davon erzählen, wie sie mal Rudi Dutschke die Hand gegeben haben, und blöde kichern, nachdem sie einen Joint rauchen.

68 war die Sehnsucht der eigenen Jugend. Beim Fernsehgucken mit der Jetztjugend schien das wahnsinnig lange her. Später gab’s auf XXP „Die Patriotin“ von Alexander Kluge von 1978. Großartig grüblerischer Film. Dabei kam man sich aber auch sehr seltsam vor, weil man solche Filme so sehr geliebt hatte, und weil sie nichts mehr mit dem heutigen Bewusstsein zu tun haben, und weil man Stunden bräuchte, an Politik nicht interessierten 18-Jährigen zu erklären, weshalb Kluge, Godard oder Achternbusch wichtig waren. Plötzlich kam man sich auch selber wie so ein Klugefilm vor und dachte, wie schade, dass es so was nicht mehr gibt. DETLEF KUHLBRODT