: Die große Altpapiertonne
Das Gejammer um die ach so wichtige Anna-Amalia-Bibliothek ist völlig überflüssig
Vom „Oberjammergau Deutschland“ sprach neulich ein Kommentator des Deutschlandradios in einmal mehr höhnisch verunglimpfender Absicht derer, die der immer zügelloser praktizierten Abgreife durch das globalisierte Halunkentum ihren, wenn auch eher hilflosen Montagsprotest entgegensetzen. Das gehört überhaupt im Moment zu den billigsten journalistischen Übungen: Leute pauschal der Jammerlappigkeit bezichtigen, weil sie sich dagegen wehren, per Gesetz ihrer Würde und ihrer Ersparnisse beraubt zu werden. Dass dieses gratismutige publizistische Gejaule erst recht den Penetranztatbestand des Jammerns aufs Ekelhafteste erfüllt, merken die willfährigen Agenda-Behudler dabei nicht einmal.
Wenn aber aus einem so nichtigen Anlass wie dem Feuer neulich in der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek die vereinigte deutsche Journaille zur triefend-schniefenden Generalwehklage anhebt, offenbart sich deutlich, dass die wahren Jammerlappen in den bestens abgepolsterten deutschen Fernseh- und Zeitungsredaktionen sitzen. Als sei ihnen gerade der Hartz leibhaftig mit einem Lohnenteignungsbescheid erschienen, so beklagen sie da den Verlust eines wackeligen, rokkokoklebrigen Bibliothekssaals und ein paar alter Schwarten. Angesichts dieser „kulturellen Katastrophe“, wie es hernach aus der mal wieder katastrophal frisierten Staatskulturverweserin Christina Weiss troff, seien jetzt „Trauer, Schrecken und Selbstvorwürfe“ angesagt. So schluchzte das Zeit-Feuilleton, und nicht nur dessen Autoren suhlten sich im Angesicht einiger leichnamartig aufgebahrter verkohlter Bücher nahezu beslanartig in dem Leid, das dem „zerbrechlichen Gebäude“ und dem darin modernden Trödel widerfahren war. Dabei wurde niemand ernsthaft geschädigt oder gar getötet.
Was allerdings fast ein Wunder war, meinten doch einige besonders enthusiastische Altpapierfans, aus dem bereits lichterloh brennenden Haus noch ein paar Fuder vergilbten Plunders herausschleppen zu müssen. Allen voran der so tapfere, in Wirklichkeit wohl nur um seinen Posten bangende Bibliotheksdirektor Michael Knoche. Dieser hatte „unter Einsatz seines Lebens noch die Lutherbibel aus einem Regal ganz weit oben, in der Nähe des Brandherds gerettet“, wie wiederum die Zeit atemlos vor so viel lutherbibelfester Tollkühnheit berichtete, nachdem Knoche für seinen Bibeldienst zuvor schon durch einen Auftritt in Johannes B. Kerners Schabberstunde geadelt worden war.
Die Lutherbibel! Meine Güte! In jeder gut sortierten Hotelzimmerschublade kann man heutzutage eine Lutherbibel einsehen. Wozu da sein Leben riskieren? Vielleicht hätte Direktor Knoche eher mal unter Einsatz seiner bestimmt nicht schlecht bezahlten Mittagspause einen Elektriker anrufen und die maroden Stromleitungen in seinem Dachstübchen überprüfen lassen sollen.
Ihre Leitungen gründlich durchchecken lassen sollte sich auch mal Nike Wagner, Enkelin von Adolf Hitlers und Franz Beckenbauers Lieblingskomponist Richard Wagner und vor allem dank dieser Leistung eine anerkannte Hohepriesterin der aktuellen Großkopfertenkultur. Ihr verursachte der Anblick der „ausgeweideten“ Anna-Amalia-Bibliothek – „so seltsam das klingen mag“, wie sie immerhin anmerkte, denn das tut es in der Tat – „einen ähnlichen Schmerz, wie wenn Lebendiges dahingegangen wäre“. Solche Phantomschmerzen kann nur haben, wer auch sonst auf dem falschen Dampfer fährt. Frau Wagner war es übrigens, die angesichts der brennenden Bücherei als Erste wusste: „Was Goethe einst in den Händen hielt, geht in Rauch auf.“ Was einen unwillkürlich fragen ließ, ob sich der alte Fürstenknecht, Gräfinnenbefummler und Todesurteileunterschreiber wohl auch vorher die Hände gewaschen hatte. Die Weimarer Feuerwehr immerhin konnte im Bibliotheks-Qualm keine sonderlich besorgniserregenden Goethewerte feststellen.
Trotzdem wird seither auf allen verfügbaren Kanälen um Geldspenden gebettelt, damit – wie immer extra betont wird, weil es sonst anscheinend keinen besseren Spendengrund gibt – „die Bücher, die Goethe in den Händen hielt“, ihre bisherige Lagerstätte wieder erhalten. Auch öffentliche Gelder werden frech und in großer Summe eingefordert und wurden auch schon genehmigt. Denn dass die Anna-Amalia-Altpapiertonne originalgetreu wieder aufgebaut werden muss, gilt im Land der rekonstruierten Dresdner Frauenkirchen, Berliner Schlösser und mittelalterlichen Ständeordnungen als selbstverständlich.
Tatsächlich offenbart sich in dieser aufbruchklammen und eher rückwärts gewandten Geisteshaltung einiger durchgeknallter Schöngeister und ihrer ebenso zahl- wie vorbehaltlosen Unterstützer in Presse, Funk und Fernsehen exakt das Besitzstandsdenken und das Festhalten an alten Hüten, das sie sonst den Agenda-Opfern so gern unterstellen. Letzteren geht es allerdings um die Sicherung ihrer Existenz. Den Weimarer Ästheten bloß um ein paar angekokelte Bücher. FRITZ TIETZ