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Archiv-Artikel

Jede Gruppe fürchtet, den Kürzeren zu ziehen

Mit drei religiösen Gruppen, Minderheiten und einer Besatzungsmacht im Land verzögert sich im Irak die Erarbeitung einer neuen Verfassung

KAIRO taz ■ Ganze sechs Monate hatte der US-Außenminister den Irakern gegeben, um nach 20 Jahren Saddam Hussein eine neue Verfassung auszuarbeiten. „Das wird schwierig, aber wir müssen sie zwingen, sich in Bewegung zu setzen“, verkündete Colin Powell vor zwei Wochen.

Er hatte die Rechung ohne die Iraker gemacht. Mit drei religiösen Gruppen, einem Dutzend ethnischer Minderheiten und einer Besatzungsmacht im Land ist es fast unmöglich, bei Fragen einer föderalistischen Struktur oder des religiösen oder säkularen Charakters des künftigen Staates einen Konsens zu finden. Ob Sunniten, Schiiten, Kurden, Christen oder Turkmenen – jede Gruppe fürchtet, beim Projekt für die nächste Generation den Kürzeren zu ziehen.

So ist es kein Wunder, dass der irakische Verfassungsausschuss, der vor zwei Monaten beauftragt worden war, wenigstens ein Prozedere zu schaffen, nachdem eine Gruppe von Leuten ausgewählt werden sollte, die sich dann über die Erstellung der Verfassung streitet, jetzt bereits daran gescheitert ist. Die schiitischen Vertreter verlangten, dass eine verfassunggebende Versammlung vom Volk gewählt wird. Jede andere Art, eine Verfassung zu schreiben, wäre illegal, verkündete bereits im Juli der wichtigste geistige Schiitenführer, Ajatollah Sistani.

Seine mehrheitsdemokratische Gesinnung ist verständlich. Da die Schiiten mit 60 Prozent den Großteil der Bevölkerung stellen, hätten sie damit beim Schreiben der Konstitution die Oberhand. Verständlich auch, dass das beispielsweise von der kurdischen Minderheit ganz anders gesehen wird. „Mitglieder der Verfassungsversammlung sollten aus Rechtsexperten, Akademikern und Politikern ausgewählt werden“, lautet der Gegenvorschlag von Dara Nureddin, einem kurdischen Mitglied des provisorischen irakischen Regierungsrates.

Dem stimmt der Chef des Verfassungsausschusses zu, der ebenfalls Kurde ist. „Die Verfassung darf keine Konstitution der Mehrheit, sondern muss für alle da sein“, sagt er. Dem wiederum hält Abdul Mahdi, ein Mitglied des schiitischen Obersten Rates für die Islamische Revolution, entgegen, dass die Mehrheit nie die Minderheitenrechte übergehen könne, weil alle Beschlüsse im Konsens erreicht werden müssten.

Im Moment wird ein Kompromiss diskutiert, nach dem es zwei Arten von Delegierten geben könnte: eine Hälfte vom Volk gewählt, die andere von einer Liste aus Experten nach religiösem und ethnischem Proporz bestimmt.

Wie auch immer, der Verfassungsausschuss hat das ganze Problem erst einmal wieder an den Regierungsrat zurückgereicht, der ihn ursprünglich bestimmt hatte, um die verfassunggebende Versammlung zu bilden. Das Ganze sieht nicht nach einer Verzögerung von Wochen, sondern eher von Monaten aus. Denn der richtige Streit kommt erst, wenn man sich am Ende doch auf die Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung einigen sollte. Dann werden bei der Frage des föderativen Systems aller Wahrscheinlichkeit nach die Fetzen fliegen. Die Kurden wollen ihre neue Selbstbestimmung nicht aufgeben, die Schiiten im Süden wollen endlich richtig repräsentiert werden und die Sunniten wollen die Zentralmacht Bagdads nicht aufgeben.

Auch bei der Frage des religiösen Charakters des Staates dürften sich die Geister scheiden. Wird das islamische Recht die einzige Rechtsquelle oder nur eine der Rechtsquellen, und wie säkular wird das Staatsgebilde?

Und dann ist da noch die Besatzungsmacht, die hinter den Kulissen auch ein Wörtchen mitreden möchte. Der US-Präfekt Paul Bremer hat zwar erklärt, dass selbstverständlich „die irakische Verfassung von Irakern geschrieben wird“, nicht aber ohne hinzuzufügen, dass das Werk am Ende Föderalismus, Demokratie, Respekt vor Verschiedenartigkeit und die Rechte der Frauen festschreiben muss.

Übrigens hatte der Verfassungsausschuss vor der Erklärung seines vorläufigen Scheiterns eine kleine Meinungsumfrage in Auftrag gegeben. Dabei kam heraus, dass die Iraker ihrer neuen Verfassung durchaus aufgeklärt gegenüberstehen. 70 Prozent wünschen demnach eine säkulare Verfassung, während 18 Prozent glauben, das Ganze müsse im Lichte der Scharia geschrieben werden. Gewaltenteilung und unabhängige Justiz sind unangefochten. In einem Punkt waren sich die Befragten aber ganz besonders einig: 95 Prozent sprachen sich dagegen aus, dass die US-Besatzung bei der Schaffung der irakischen Verfassung mitzureden hat.

KARIM EL-GAWHARY