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Archiv-Artikel

Unser Neukölln soll schöner werden

Das Modell Zauberwürfel war nichts dagegen: Die Umgestaltung der Schillerpromenade überfordert das Koordinationsvermögen und erinnert immer mehr an archaische Pyramiden und frühzeitliche Keltengräber

Am Anfang war es nur eine kleine Stelle: Ein Bagger hatte die großen Pflastersteine aus der Schillerpromenade in Neukölln gerissen und auf einen Haufen getürmt. Obwohl die Brocken alle verschieden groß und unterschiedlich geformt sind, hat man sie weder nummeriert noch sonstwie sortiert. Genau das ist das Problem.

„Wahnsinn“, denke ich jedes Mal im Vorbeigehen, „wie wollen die das bloß schaffen?“ Um es kurz zu machen: Sie schaffen es nicht. Niemand schafft es – es ist nicht zu schaffen. Der „Zauberwürfel“ war dagegen ein Kinderspiel: Wem die Fummelei zu blöd war, der griff zu Schraubenzieher und Zange. Danach drückte man eine Tube Pattex in das kaputte Ding, bevor man es dankend dem Mathestreber in der Klasse zurückgab.

Bei einer Pflasterstraße kann man die Methode getrost vergessen. Das spielerische Element einer Tätigkeit, die ausschließlich daraus besteht, aufs Geratewohl schwere Steine aneinander zu legen, wurde rasch komplett von deren Sinnlosigkeit aufgesogen. Nach einer Woche Trümmerpuzzle zu glauben, es endlich geschafft zu haben, nur damit schon wieder der letzte Stein nicht passt, überfordert auch seelisch stabile Naturelle. Kein Wunder, dass an der Baustelle nur noch selten jemand arbeitet, und wenn, dann allenfalls halbherzig. Die anderen Arbeiter werden inzwischen in Nervensanatorien im Schwarzwald aufgepeppelt, wo sie Tag und Nacht Memory spielen und dabei wirr vor sich hin fiepen – das Nachsehen hat wie üblich der Steuerzahler.

Auch den Mittelstreifen der Promenade haben sie umgestaltet. Das Buschwerk wurde entfernt und durch Nutzflächen ersetzt – Wege, Spielgeräte, Tische und Bänke. Letztere dienen dem zechenden Volk als Treffpunkt. Auf den Tischen stehen malerisch Dosen und Flaschen herum, und ich verspüre oft nicht wenig Lust, mich dazuzugesellen. Irgendwie gehöre ich doch auch ein bisschen dazu. Lautstark kommentieren die Trinker den unbefriedigenden Verlauf der Straßenarbeiten, die bald ausgeweitet wurden. Obwohl an der ersten Stelle sichtlich gescheitert, riss man die Straße noch an weiteren auf.

Schuld war wohl der Fehlschluss, durch die höhere Zahl an Steinen erhöhe sich auch die der Einsetzoptionen. Dummerweise stieg dadurch auch die mögliche Fehlerquote – auf etwa 10 hoch 7 Fantastillionen: zu viel bis zum Feierabend, aber gerade richtig für drei Monate Schwarzwaldklapse.

Auf die Zecher scheint die Atmosphäre sehr inspirierend zu wirken: Kurz nach der Baustellenerweiterung sah ich sie neulich auf ihrer Bank sitzen, vor sich große Flaschen Fanta und weit und breit weder Bier noch Schnaps. Sie grinsten mich an und freuten sich sichtlich über meine Verblüffung. Das Ganze war offenbar eine Art Performance, bei der sie mit den klassischen Erwartungen des Betrachters („Säufer“, „Bier“, „kaputt“ etc.) spielten und ihm über diesen gewollten Bruch den Spiegel vorhielten. Wer war hier Penner, wer Passant – die Rollen schienen plötzlich vertauscht. Gut, ich weiß natürlich nicht, was letztlich in den Flaschen drin war.

Fast die ganze Straßenseite ist jetzt aufgerissen. Alle dreißig Meter ragt ein Berg Pflastersteine in den Himmel, archaischen Pyramiden gleich oder frühzeitlichen Keltengräbern – Symbole auch der Niederlage des menschlichen Intellekts gegen die unbarmherzige Stiefmutter Statistik. Neuerdings fehlen übrigens auch im Bürgersteig Steine. Die sind viel kleiner als die aus der Straße, aber ebenso unsymmetrisch. Ich denke mal, dass sie die einfach zum Üben benutzen.

JÖRG SUNDERMEIER