: Die Kunst der Ausbeutung
AUS BERLIN PHILIPP GESSLER
Wer baute das Ischtar-Tor, wer die Prozessionsstraße von Babylon? Wer schleppte die Steine für das Markttor von Milet, das sich in die Höhe zwirbelt wie eine gotische Kathedrale? Wer bekochte die Künstler des Pergamonaltars? Waren es Sklaven, Zwangsarbeiter? Und ist diese Kunst nicht trotzdem schön?
Éva Fahidi und Aniko Friedberg, so ihre Mädchennamen, stehen unter dem Wandfries des Pergamon-Altars in Berlin. Über ihnen stößt gerade Phoibe einem Titanen eine Brandfackel ins Gesicht. Die beiden älteren Damen können etwas erzählen von Kunst und Sklavenarbeit, von Brutalität und Vergebung. Vor 60 Jahren waren die beiden jüdischen Ungarinnen Zwangsarbeiterinnen bei Friedrich Flick, der reich wurde, weil er sie ausbeutete. Heute öffnet die Kunstsammlung seines Enkels Friedrich Christian („Mick“) Flick in der Hauptstadt ihre Tore. Aus der Ausbeutung von Éva und Aniko ist etwas Schönes geworden. Wer baute das Ischtar-Tor?
Aniko war 16, Éva 19 Jahre alt, als sie im Viehwaggon Ende Juni, Anfang Juli 1944 nach Auschwitz kamen. Von Évas fast 50-köpfiger Familie blieb nur sie übrig. Anikos Vater überlebte das KZ Mauthausen. Mit ihrer Mutter und dem kleinen Schwesterchen stand sie auf der Rampe in Auschwitz vor Josef Mengele. Der KZ-Arzt entschied: Aniko zur Arbeit, die Mutter mit Kind ins Gas, nach rechts, nach links.
Am 13. August 1944 wurden Éva und Aniko nochmals selektiert. Sie gehörten zu den 1.000 ungarischen Jüdinnen, die schuften mussten für Flick – oder: schuften durften? Aniko und Éva haben wohl nur überlebt, weil sie aus Auschwitz rauskamen. Damit Flick reich werden konnte.
Bei Allendorf, heute Stadt Allendorf in Mittelhessen, lag sein Rüstungswerk, das Lager Münchmühle. Die italienischen Zwangsarbeiter, die schon da waren, freuten sich auf die Frauen – und weinten, als sie ankamen. Denn abgemagert waren sie, krank, geschoren. Der Lagerleiter wies die Zwangsarbeiterinnen an, zu vierzehnt in eine Baracke zu ziehen. Sie wollten zunächst zu vierzig eine Baracke beziehen. Unvorstellbar, dass nur vierzehn gemeint sein könnten. „Wir dachten, das ist das Paradies“, sagt Éva.
Doch dann kam die Arbeit, die Frauen mussten zwölf Stunden am Tag Granaten fabrizieren – ohne Schutzkleidung, ohne Handschuhe. Trinitrotoluol, Salz und Salpeter mussten sie in die Granaten stopfen. Nach einer Weile waren blonde Haare rot, schwarze lila. Noch heute ist das Wasser um die frühere Fabrik verseucht. Éva und Aniko mussten die etwa 50 Kilo schweren Granaten schleppen. Monatelang. Je näher die Front rückte, desto mehr hungerten sie. Am Ende wogen Éva und Aniko weniger als die Granaten, die sie hoben. „Wehrwirtschaftsführer“ Flick verdiente weiter an ihnen.
Ende März wurde das Lager aufgelöst, die SS-Männer schlüpften schnell in Zivil, als die US-Armee immer näher kam. Éva, Aniko und die anderen Zwangsarbeiterinnen sollten noch, völlig entkräftet, ins KZ Bergen-Belsen marschieren – bei Ziegenhain konnten sie sich absetzen und im Wald verstecken, bis die US-Soldaten da waren. „Körperlich haben wir überlebt“, sagt Éva, „aber unsere Seele ist gestorben.“ Sie sagt es in gutem Deutsch. Anikos Familie gehörte zum ungarischen Bürgertum, natürlich sprach man schon als Kind Deutsch.
Nach der Befreiung: Mehrere Ehen, Kinder, Enkelkinder, Stalinismus, Aufstand 1956 – ein pralles Leben. Éva war Managerin in der ungarischen Stahlindustrie, Aniko lebt seit Jahrzehnten als Bildhauerin in New York. Bald werde sie („Das ist jetzt a commercial.“) im UNO-Gebäude eine Ausstellung von Bildhauerinnen eröffnen, erzählt sie. Für eine Gedenkstätte in Allendorf hat sie auch eine Plastik geschaffen.
Im Frühjahr erhielten Éva, Aniko und andere Münchmühle-Überlebende eine Einladung des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts zur Erforschung des Holocaust nach Berlin und Stadt Allendorf. Aniko sagt, die Einladung habe sie auch aus touristischen Motiven angenommen: Museen und Berlin erleben, vor allem aber die alten Leidensgenossinnen wiedersehen. Sie fühlten sich wie Schwestern, „like a sisterhood“. Die Damen sind zärtlich zueinander, immer wieder streicheln sie sich die Hände. Oft lachen sie miteinander wie Teenager.
Mit Elizabeth Szemes und Lilli Virág, zwei anderen „Kolleginnen“, wie Éva es sagt, laufen sie durch die Hauptstadt. Ein schönes Programm: Gemäldegalerie, Berggruen-Sammlung, Pergamon-Altar. Gut geplant auch von Aniko, die vor allem Kunst sehen will – wie wäre es, auch eine andere offenbar schöne Ausstellung anzuschauen, etwa die Mick Flicks, dessen Sammlung auf dem Geld beruht, das sein Opa verdiente, weil er Éva, Aniko, Elizabeth und Lilli für sich ausbeuten ließ?
Die Sache ist heikel. Denn einerseits wollte das Fritz-Bauer-Institut die länger geplante Reise nicht verschieben, nur weil die umstrittene Flick-Collection eröffnet wurde. Andererseits wollte man, wie Institutsleiter Micha Brumlik sagt, schon eine politische Aussage machen. Vor allem sollten die Damen von ihrer Leidenszeit als Zwangsarbeiterinnen erzählen – ohne zugleich in der Flick-Diskussion instrumentalisiert zu werden. Ohne die alten Damen zu überfordern, ob der schmerzhaften Erinnerungen und vielen Eindrücke. Das ist so etwas wie die Quadratur eines Granatenkegels.
Und natürlich sind die Medien aufgestachelt: Würden die vier alten Damen zu anderen Zeiten kaum beachtet ihr Besuchsprogramm an der Spree und in Mittelhessen absolvieren, drängt es die Hauptstadt-Journalisten, die vier zu erleben. Doch fast scheint es, als wichen sie der Öffentlichkeit aus. Am vergangenen Donnerstagabend wurde eine kleine Ausstellung in Regionalmuseum Prenzlauer Berg über „Zwangsarbeit in Berlin 1938–1945 + Das Beispiel Flick“ eröffnet – die vier Damen sahen sich die Schau schon allein am Nachmittag an.
Am folgenden Montag stellte Peter Kessen sein Buch über „die ‚Flick-Collection‘ und die Berliner Republik“ vor. Éva, die darin porträtiert ist, sollte auch dort sein. Ein Journalist auf der Buchvorstellung fragte, wo sie denn sei. Brumlik entschuldigte Éva: Sie habe schlecht geschlafen und sei etwas „lampenfiebrig“. Er sagte, es sei ein „kultur- und erinnerungspolitischer Skandal“, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die Flick-Ausstellung eröffne, obwohl sich Flick ebenso wie sein Opa seit Jahrzehnten weigere, Entschädigungen für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu zahlen. Aber was halten die Zwangsarbeiterinnen denn jetzt von der „Flick-Collection“?
Alles läuft auf einen Showdown hinaus. Auf einer Veranstaltung des Fritz-Bauer-Instituts und der Politologen vom Otto-Suhr-Institut der Freien Universität am späten Montagnachmittag sind sechs Kamerateams. „Zwangsarbeit bei Flick. Ein Kolloquium mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen“ ist das Thema. Spannung liegt in der Luft. Kommen die alten Damen dieses Mal?
Es ist mucksmäuschenstill im Saal, als Lilli im ungarischen Singsang erzählt, von der Deportation, von Auschwitz, Elizabeth übersetzt. Dann berichtet Elizabeth vom Lager „Münchmühle“, Éva liest aus ihrem Buch „Anima Rerum. Meine Münchmühle in Allendorf“, mit der Öffentlichkeit kommt sie am besten zurecht. Aniko schildert die diabolische Höflichkeit Mengeles an der Rampe. Von der Deutschen Bank, die das Flick-Firmen-Imperium kaufte, erhielten sie vier vor Jahrzehnten jeweils 2.000 Mark Entschädigung, erzählt Éva – 4.000 Mark waren zugesagt.
Aber was, fragt endlich eine Zuhörerin, halten sie denn jetzt von der Flick-Collection? Elizabeth sagt, man müsse bei der Ausstellung nachfragen, woher das Geld komme. Lilli schweigt, Aniko meint: „We are not the right people to ask.“ Éva sagt, sie liebe Kunst. Aber sie wünsche sich, dass in 20 Jahren in der Ausstellung eine Marmortafel hänge, auf der stehe: Für diese Ausstellung haben Aniko, Elizabeth, Lilli und Éva in Allendorf geschuftet. Zu Hause, erzählt sie noch, hätten sie als Kinder die Mahnung erhalten, sich stets zu versöhnen vor dem Schlafengehen. Sonst schliefen sie nicht gut. Jetzt, kurz vor ihrem letzten langen Schlaf, wolle sie es ähnlich halten, nicht neuen Hass in ihr Herz lassen. Gestern reisten die vier Damen nach Allendorf.
Im Budapester Café Europa nahe der Margareteninsel treffen sich Éva und die anderen Überlebenden an jedem letzten Dienstag des Monats. Zuerst geht es um die Männer, Kinder und Enkelkinder, sagt Éva. Aber dann, nach zehn Minuten, „immer um Auschwitz und Allendorf“. Und das, sagt sie, werde so bleiben. „Solange wir leben.“