Cees Nooteboom liest im Literaturhaus aus dem neu edierten Debütroman „Philip und die anderen“: Poetisches Beziehungsgeflecht
Vielen ist der Schriftsteller Cees Nooteboom durch seinen 1980 erschienenen Roman Rituale bekannt geworden, manchen noch später, als 1991 Die folgende Geschichte herauskam. Und tatsächlich hatte sich der Niederländer, der jetzt im hiesigen Literaturhaus lesen wird, in den Jahren zuvor als Reisejournalist einen Namen gemacht.
Doch der Beginn von Nootebooms Schriftstellertätigkeit liegt viel weiter zurück: Mit gerade mal 20 Jahren legte er im Jahr 1954 sein Debüt Philip und die anderen vor. Unter dem Titel Das Paradies ist nebenan erschien es 1958 auch in Deutschland.
Nun feierte Nooteboom im Juli seinen 70. Geburtstag, und Suhrkamp hat das Philipp-Buch mit Originaltitel und in neuer Übersetzung wieder herausgebracht. Das ist sehr schön, bietet sich doch so die Möglichkeit der Neu- und/oder Wiederentdeckung einer kleinen literarischen Perle. „Es waren kaum Leute im Bus, und ich dachte, ein Autobus bei Nacht ist wie eine Insel, auf der man fast allein lebt.“ Da ist der Ich-Erzähler Philip zehn Jahre alt und feiert zum ersten Mal ein Fest mit seinem wunderlichen Onkel Antonin Alexander. Und die beiden tun, was Philip gefällt: Nachts Bus fahren, am Wasser sitzen, „im Regen herumgehen und manchmal jemanden küssen“. Die Küsse müssen noch warten. Zunächst stellt ihm der Onkel nach leidenschaftlichem Cembalospiel Herrn Bach vor – er schüttelt dem Unsichtbaren die Hand. Das versteht der Junge nicht ganz. So wenig wie sechs Jahre später, bei einem zweiten Besuch, die Rede vom Paradies, in das es zurückzukehren gälte, erschiene das den meisten Menschen auch eigenartig.
Was er ahnt, wird ihn leiten auf seiner Reise per Anhalter quer durch Europa. Ein Mönch erzählt ihm von einem Mädchen mit chinesischem Gesicht, Marcelle. Sie lebt meist jenseits der sichtbaren Wirklichkeit, belebt die Dinge mit ihrer Phantasie. Sie will er finden. Und reist durch die Städte und sieht sie einmal am Strand von Calais. Und sucht sie weiter und trifft auf andere: auf Vivien, die er trösten, aber nicht lieben kann; auf einen Epileptiker, der ihm erklärt, dass der Beginn eines Anfalls Aura heißt, und warum es leichter ist, das Glück hinter als vor sich zu haben. Sargon erzählt ihm seine Geschichte, eine weitere, von der Besessenheit durch die Stimme des Nachrichtensprechers. Und er begegnet Fey, die mit vielen Männern geschlafen hat, mit ihm aber das nächtliche Ballspiel bevorzugt. Zu viert leben sie eine Weile in einem abbruchreifen Haus, dann zieht er weiter.
Es ist schwer, den Zauber dieses Buches zu fassen, eine Art Magie fast, die in allen Begegnungen aufscheint. Nooteboom gelingt ein übergangsloses Wechseln vom realistischen ins phantastische, traumhafte Erzählen. Eine romantische Sehnsucht treibt Philip: die poetische Suche nach der Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit. „Ihr denkt immer, eure Welt wäre die wahre, aber das stimmt nicht, die meine ist es, es ist das Leben hinter der ersten, der sichtbaren Welt, ein Leben, das greifbar ist und vibriert – ... was ihr seht, ist tot.“ Weil sie, mit dem chinesischen Gesicht, das gesagt hat, muss er sie finden. Und will er sie lieben. Beides wird ihm gelingen. Mit ihr feiert er Feste jener Art, wie sein Onkel sie ihm beibrachte – und weiß doch, dass sie gehen wird, obwohl „wir ineinander passten wie Hände“.
Nooteboom hat sich in Philipp und die anderen ein wenig von seinem Erstling distanziert, ein „schwärmerisches Buch“ sei es, sagt er. „Ja, und?“ möchte man entgegnen, ist es doch von jener Poesie getragen, die ihm zur Lebenspraxis – dabei den Kitsch manchmal haarscharf meidend. Diese Schwärmerei kann nur jene stören, die sich ganz im „vernünftige(n) Wahnsinn der Realitätstüchtigkeit“ (Rüdiger Safranski) eingerichtet haben. CAROLA EBELING
Cees Nooteboom: Philip und die anderen. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2003, 168 S., 19,90 Euro. Lesung: Di, 21. 10, 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38
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