Mehr Welt denn je

Ist Größe Argument genug? Oder braucht es nicht doch ein Konzept? Am Dienstag wurde das Internationale Literaturfestival in Berlin eröffnet

Es dauert keine fünf Minuten und keine fünf Danksagungen, und der Leiter des Internationalen Literaturfestivals, Ulrich Schreiber, übt sich in einer seiner Lieblingssportarten: dem Beschwören der Welt, respektive dem Beschwören der Welthaltigkeit in der Weltliteratur. Mit einer „riesigen Welterfahrungskammer und Sprachschatzkammer“ habe man es in den nächsten zwölf Tagen zu tun, so Schreiber in seiner Eröffnungsrede im Berliner Theater Hau 1, das Festival mit seinen geladenen 150 Autoren biete einen „Querschnitt der Literaturen der Welt“, „einen weltweit einmaligen Austausch“, eben einen „vielstimmigen Austausch der Welterfahrung“, und es mache, wie soll es anders sein, Berlin in diesen Tagen endgültig zu einer „Weltmetropole“.

Es fehlt nur, dass Schreiber aus dem Hau, das kürzlich zum Theater des Jahres in Deutschland gekürt wurde und in dessen drei Spielstätten das Gros der Lesungen stattfindet, ein Welttheater macht. Doch da belässt er es lieber mit der selbstverständlich rein rhetorischen, vergleichsweise bescheidenen Frage: „Passen das Theater des Jahres und das Internationale Literaturfestival Berlin nicht gut zusammen?“

So viel Welt war also lange nicht in Berlin, zuletzt vermutlich genau vor einem Jahr bei der letzten Ausgabe des Festivals, als ebenfalls mindestens 150 Autoren aus aller Welt auf mindestens 300 Veranstaltungen zu erleben waren. Damals allerdings stand die Finanzierung noch auf wackeligen Beinen, da hatten die Welt, einige Sponsoren und die zahllosen, namenlosen und umsonst tätigen Praktikantinnen die Wichtigkeit dieser Veranstaltung zwar begriffen, aber nicht die einheimische Kulturpolitik.

Das ist jetzt anders: Anfang des Jahres wurde beschlossen, das Internationale Literaturfestival erst mal bis ins Jahr 2006 zum Bestandteil der Berliner Festspiele zu machen und in die Regelfinanzierung des Bundes über den Hauptstadtkulturfonds aufzunehmen, mit 375.000 Euro in diesem Jahr und jeweils 350.000 Euro in den folgenden. Denkt man an die gerade vier Literaturveranstaltungen, die der Hauptstadtkulturfonds dieses Jahr sonst unterstützt, und zwar alle zusammen mit gerade mal 75.000 Euro, lässt sich leicht schlussfolgern, dass es kleinere Literaturveranstaltungen in Zukunft eher noch schwerer haben werden, finanzielle Zuwendungen zu bekommen.

Allein die Größe ist eben ein Argument, selbst wenn Ulrich Schreiber im Programmheft schreibt, dass es neben der tatkräftigen Unterstützung einiger Personen aus Kultur und Politik auch „das Konzept des Festivals, die Resonanz von Autoren, Publikum und Medien“ den Ausschlag für die Staatsfinanzierung gegeben hätten. Und die ansonsten weiter dringend benötigten Sponsoren, das räumt Schreiber in kleiner Runde schon gern mal ein, seien allein durch schiere Größe zu gewinnen.

Die Resonanz beim Publikum gibt es, keine Frage, 35.000 Menschen sollen vergangenes Jahr da gewesen sein (was natürlich nichts ist im Vergleich mit beispielsweise drei aufeinander folgenden ausverkauften Wuhlheide-Konzerten der Berliner Band Die Ärzte mit insgesamt 50.000 Zuschauern, aber das ist eine andere Geschichte). Nur mit dem Konzept hapert es weiterhin. Das Konzept ist, dass es kein Konzept gibt, dass ein Filmprogramm, ein Musikprogramm und ein buntes Rahmenprogramm genauso dazugehören wie zahlreiche Literatursparten wie „Kaleidoskop“, „Erinnerung sprich“ oder „Literaturen der Welt“. Diese haben allesamt etwas Beliebiges, schwer Durchschaubares und wirken wie notdürftig hergestellte, allein die Organisation erleichternde Strukturmaßnahmen.

Vertraut wird darauf, dass sich die mündigen Freunde der Weltliteratur schon selbst durchfinden, dass sie Entdeckungen vieler unbekannter Autoren, etwa aus Malaysia oder der Ukraine, aus Haiti oder Dänemark, von allein vornehmen werden. Und darauf, dass sich gegen so viel Kultur, gegen so viel Gutes und Gutgemeintes, gegen so viel Schönes und Welterfahrungsgesättigtes nur schwer etwas einwenden lässt, zumal es in einigen Fällen durchdrungen wird von politischem Engagement.

Was ist schon ein Buch wie Robbe-Grillets „Die Jalousie oder Die Eifersucht“ gegen einen Roman wie „La mujer en cuestión“, in dem die argentinische Autorin Maria Teresa Andruetto die Geschichte einer Frau in Zeiten der letzten argentinischen Militärdiktatur erzählt? Und wie klein und bedeutungslos nimmt sich die in Büchern wie „Lego-Steine“ und „Der Reservetorwart“ erzählte Kindheit eines deutschen Autoren wie Burkhard Spinnen aus, wenn es anlässlich der jüngsten Katastrophe im Sudan in einer Reihe wie „Perspektive UNO“ um die Reformierbarkeit und erweiterte Handlungsspielräume der UNO geht?

Da ist es nur konsequent, dass das Festival dann auch inhaltlich eröffnet wird mit einer Rede und Gedichten der weißen südafrikanischen Autorin Antjie Krog, die schon als 17-jährige Schülerin mit einem seinerzeit Aufsehen erregenden Gedicht die Rassentrennung anprangerte. Krog hält eine interessante, aufschlussreiche Rede, in der es zehn Jahre nach dem zumindest offiziellen Ende der Apartheid um die spezielle afrikanische Art von Vergebung und Versöhnung geht, um das Unverständnis, das diese in der westlichen Welt auslöst, um verschiedene Formen von Wahrheiten. Während Krogs Vortrag aber gibt es schon kleinere Unruhen im Publikum, die ersten Festivalbesucher verlassen das Theater. Manchmal nützt eben alle Welthaltigkeit nichts, da besteht die ganze Welt nur aus einem Glas Wein. GERRIT BARTELS