: „Das erinnert mich an die Sowjetunion“
Das Internet muss ein öffentliches Gut bleiben, das der ganzen Gesellschaft dient, fordert der Rechtswissenschaftler Lawrence Lessig aus Stanford. Wenn die Medienindustrie deswegen ein bisschen weniger Profit macht, ist das nicht weiter schlimm. Der wirtschaftliche Nutzen des freien Zugangs ist größer
INTERVIEW DIETMAR KAMMERER
taz: Die Medienindustrie führt einen erbitterten Kampf gegen die freien Tauschnetze. In Deutschland steht eine weitere Verschärfung des soeben erst erneuerten Urheberrechts bevor. Danach soll privaten Nutzern des Internets nicht nur das kostenlose Anbieten, sondern auch das Herunterladen von Musikstücken und Filmen aus Tauschnetzen verboten sein. Fachleute meinen, dass wir an einem Wendepunkt stehen: Weg von einem Netz, das für alle möglichen Anwendungen nach dem Prinzip „End-to-End“ die gleichen Voraussetzungen bietet, hin zu einem Netz, das von seinen Betreibern für bestimmte Zwecke und Anwendungen zurechtgeschnitten wird. Lässt sich diese Entwicklung noch aufhalten?
Lawrence Lessig: Ein Vorschlag lautet, das Netzwerk zu subventionieren. Dadurch könnten viele Innovationen an den Enden des Netzes angeregt werden. Das ist eine typische Aufgabe der Regierungen. Nehmen Sie zum Beispiel das Straßennetz. Wir sagen nicht zu irgendeiner Autofirma: Wir lassen euch die Autobahn bauen, im Gegenzug dürft ihr sie so gestalten, dass nur eure Autos darauf fahren können. Das macht keine Regierung der Welt, im Straßenbau würde niemand so eine diskriminierende Politik verfolgen. Der Staat baut die Straßen selbst, die von allen Automarken genutzt werden können, egal ob von Audi, Fiat, Ford oder sonst wem. Die Autofirmen können daraufhin miteinander in Wettbewerb treten, um Autos zu bauen, die die bestmögliche Nutzung dieser neutralen Infrastruktur ermöglichen. Dasselbe gilt für das Stromnetz. Es wäre technisch durchaus denkbar, dass jedes Gerät, das über eine Steckdose angeschlossen wird, erst vom Netzbetreiber eine Erlaubnis einholen müsste, bevor es eine Freigabe erhält. Das Netz könnte sagen, jetzt lassen wir nur Fernsehgeräte von Sony zu, niemand sonst wird mit Strom versorgt. Aber so machen wir das nicht, weil wir begriffen haben, dass die Neutralität des Stromnetzes ein Gut ist, das der gesamten Gesellschaft zugute kommt. Das ist genau dasselbe Prinzip wie beim Internet. Wenn wir es beim Stromnetz oder beim Straßennetz so machen können, warum nicht auch im Kontext des Internets?
Sie sprechen bereits sehr pessimistisch von einem „Ende des Internets“. Andere behaupten, dass es immer Wege geben wird, mögliche Restriktionen technisch auszuhebeln.
Das ist ein Argument, dem ich nicht folgen kann. Das erinnert mich an die Verhältnisse in der Sowjetunion. Natürlich gab es damals Leute, die es bis auf den Schwarzmarkt geschafft haben, die den Regulierungen des Staates entgehen konnten. Aber können wir daraus folgern, dass die Sowjetunion ein freies Land gewesen wäre? Es wird immer Spezialisten geben, die die Kontrollen im Netz umgehen können, die sich einen Grad von Freiheit in einem Netz erkämpfen können, das nicht auf Freiheit ausgelegt ist. Aber das hat nichts mit gerechter Politik zu tun. Politik ist dann gerecht, wenn unter ihren Regeln alle die Möglichkeit erhalten, am Fortschritt teilzuhaben. Eine Hand voll Leute, die der Kontrolle entkommt, reicht dazu noch nicht aus.
Sie sind Professor der Rechtswissenschaft und glauben an die Kraft des rationalen Arguments. Kann man allein damit zum Beispiel die Musikindustrie überzeugen?
Die Musik- und Filmindustrie wird einem unregulierten Netz sicher nicht freiwillig zustimmen. Es ist vorauszusehen, dass manche Unternehmen und Geschäftszweige durch die Innovationen des Internets zerstört werden – und das sollten sie auch. Denn ihre Zerstörung bedeutet wirtschaftlichen Fortschritt und Wachstum, und letztendlich Nutzen für die Gesellschaft als Ganze. Es geht nicht um die Guten gegen die Bösen. Aber es gibt etwas, das wir unseren Politikern immer wieder deutlich machen müssen: dass sie lernen müssen, zwischen dem zu unterscheiden, was im öffentlichen Interesse liegt, und dem, was zum Beispiel für General Motors von Vorteil ist. In den Staaten gibt es die Auffassung: „Wenn es für General Motors gut ist, ist es gut für Amerika.“ Das stimmt einfach nicht. Politiker müssen das Interesse der gesamten Öffentlichkeit im Auge behalten.
Sie haben „Creative Commons“ gegründet, eine Plattform zur Verbreitung von Lizenzen für die Weiterverarbeitung von urheberrechtlich geschützten Inhalten. Dadurch wollen Sie eine „Remix Culture“ befördern und stellen sich gegen die „Erlaubniskultur“, wie sie der Film- und Musikindustrie vorschwebt, die die Nutzung ihrer Produkte am liebsten individuell steuern möchte. Lassen sich die Prinzipien des Copyleft auch auf andere Inhalte übertragen, etwa die Wissenschaft?
Mit Creative Commons haben wir versucht, einen Ansatz zu entwickeln, die Kosten für Innovationen und Kreativität zu senken. Wir haben mit dem Urheberrecht angefangen. Wir haben einfache Lizenzen entwickelt, die es erlauben, teilweise Rechte abzugeben. Jeder kann mit ihnen den Grad von Freiheit anzeigen, den er für das, was er geschaffen hat, zulassen möchte. Und wir glauben, dass eine Menge an Kreativität freigesetzt wird, wenn es möglich wird, auf bestehende Inhalte aufzubauen. Und vor kurzem haben wir „Science Commons“ gestartet, das auf Wissenschaft und Forschung abzielt, und auf viele der Probleme, die mit dem Patentrecht zusammenhängen. In Deutschland kooperieren wir dabei vor allem mit der Max-Planck-Gesellschaft.
Betroffen sind aber auch Bibliotheken, Künstler, Softwareentwickler. Was können Akteure aus so unterschiedlichen Bereichen gemeinsam haben?
Diese Vielfalt ist sehr wichtig. Ich denke, dass all diese Akteure begriffen haben, dass es große Übereinstimmungen zwischen ihnen gibt. Sie teilen eine gemeinsame Sorge: dass Gesetz und Rechtsprechung in einer Weise angewandt oder missbraucht werden, die Kreativität und Innovation behindert. Wir müssen lernen, eine kritische Haltung gegenüber den Gesetzen einzunehmen, die das so genannte geistige Eigentum definieren – und im Übrigen genauso gegen die Regulierungen der Telekommunikation. Es sind immer nur wenige, die von sehr restriktiven Regelungen profitieren, aber sie sind sehr gut organisiert. Die Mehrheit erleidet Nachteile, und sie ist nicht sehr gut organisiert. Deswegen ist es sehr wichtig, die Botschaft weit zu verbreiten. Nur so kann ein Bewusstsein entstehen für die Problematik. Und nur so wird es für die wenigen schwieriger, die Politik für ihre Zwecke zu benutzen.
Welche Strategie schlagen Sie vor?
Zumindest in den USA gilt: Man wird niemals einen Fortschritt erreichen, solange man es nicht schafft, zwei sehr mächtige Akteure gegeneinander antreten zu lassen. Im Kampf ums Urheberrecht war das immer Teil der Strategie. Die Rechteindustrie bei uns setzt im Jahr etwa 80 Milliarden Dollar um. Die Industrie, die die Hardware bereitstellt, Computer, Infrastruktur, Telefonnetze und so weiter, liegt bei 750 Milliarden Dollar. Also gehen wir zu denen und sagen: Seht mal, ihr habt eine Menge zu verlieren in dieser Auseinandersetzung, und ihr müsst euch endlich besser organisieren. Denn die Gegenseite ist sehr gut organisiert. Für die Gesellschaft ist es viel wichtiger, dass die 750-Milliarden-Industrie weiter wächst als die 80-Milliarden-Industrie.
Wollen Sie auch Konzernmanager davon überzeugen?
In der Debatte um ein neutrales Netzwerk waren wir in den Staaten sehr erfolgreich. Wir konnten sehr einflussreiche Akteure überzeugen, zum Beispiel Microsoft, Amazon, sogar Disney, sich für die Neutralität stark zu machen. Denn diese Organisationen sind abhängig von einem neutralen, nichtdiskriminierenden Internet.
Sie haben sich einmal als „Rechtsanwalt mit schlechtem Gewissen“ bezeichnet, der vieles von dem wieder gut zu machen versucht, was die Rechtsprechung auf dem Gebiet des geistigen Eigentums und des Internets angerichtet hat. Müssen Rechtsexperten jetzt Internetxperten werden?
Es gibt einen kulturellen Widerstand, sogar einen Unwillen unter Rechtsanwälten, die Bedeutung von Technologie anzuerkennen. Sie müssten endlich beginnen, diese Realitäten in ihre Analysen einzubeziehen. Statt dessen beharren sie darauf, ihr Gebiet geradezu jungfräulich rein zu halten. Man könnte ihre Einstellung religiös nennen. Anstatt pragmatisch zu fragen: Befördert ein bestimmtes geistiges Eigentumsrecht den allgemeinen Fortschritt oder nicht?, bestehen sie auf einem Urheberrecht um seiner selbst willen, weil sie eine romantische Vorstellung von Autorschaft haben – besonders hier in Europa. Sie mögen den Gedanken nicht, dass das Gesetz nur ein Integrator verschiedener Kräfte ist und keine unabhängige Vernunft darstellt. Sie reklamieren vollständige Autonomie für sich und sind nachgerade stolz darauf, von Technologie keinerlei Ahnung zu haben. Man muss den Rechtsanwälten wieder Bescheidenheit beibringen.