: Wir haben Hunger, wir brauchen Arbeit
Agency in Afghanistan: Im Rahmen des „Fake or Feint“-Programms läuft heute im Arsenal der Film „Passing the Rainbow“ von Sandra Schäfer und Elfe Brandenburger. Das Mädchen, das den Regenbogen durchquert, kann dann als Junge leben – auch weil sie muss, um die Familie mitzuernähren
Der Film beginnt. Kein Bild. „Warum verschleiern Sie Ihr Gesicht?“ „Aus Sicherheitsgründen!“
Sofort sind wir mitten in der kontaminierten Welt der Verschleierungsfrage, und uns wird gesagt, dass Schleier und Burka auch strategische Geräte sind, zugleich Gegenstände, die man sich gelegentlich zuwirft, abstreift oder nachlässig verrutschen lässt. Der Titel des Films bezieht sich auf die afghanische Sage vom Durchqueren des Regenbogens („Kamam Rostam“), das ermöglicht, das Geschlecht zu wechseln. Ein Interview im Off mit einem Mädchen, das seit seinem sechsten Lebensjahr als Junge lebt, um ihre Familie miternähren zu können, stellt die Sage auf realpolitische Füße.
„Passing the Rainbow“ handelt von einer Lehrerin, die gleichzeitig Schauspielerin ist und im Film eine Präsidentin spielt, von einer Polizistin, die auch als Actionfilm-Regisseurin arbeitet, und einer Aktivistin von Rawa (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan), die für die radikale Trennung von Staat und Religion eintritt. Überhaupt geht es in dem Film vor allem um agency, um Handlungsfähigkeit, und darum, wie die Wechselwirkungen zwischen Bildern und realen Lebensbedingungen zu fassen sind. Die beiden Regisseurinnen Sandra Schäfer und Elfe Brandenburger haben in ihrer eher partizipatorischen Arbeitsweise, die in viele – zusammen mit den afghanischen Protagonistinnen entwickelte – inszenierte Szenen mündet, das komplexe Bild einer komplexen Situation produziert. Zu vielschichtig wohl für die meisten deutschen Filmfestivals, die eben immer noch klassisch-kompakte Dokumentationen favorisieren, am liebsten aus „authentischer“ Innensicht. Das Episodenhafte ebenso wie die diskursive Verhandlung von Geschlechterverhältnissen und afghanischer Filmgeschichte ohne viktimisierende, dokumentarische Draufsicht scheint dann doch eher im Kunstkontext eine Öffentlichkeit zu finden.
Ausgangspunkt des Films war eine kurze Dokumentation der Dreharbeiten des ersten afghanischen Spielfilms „Osama“ (2003) nach dem Ende des Taliban-Regimes, Regisseur war Siddiq Barmak. Sandra Schäfer, in Berlin lebende Künstlerin und Filmemacherin, konzentriert sich bei diesem „Making off“ auf die Inszenierung einer großen Demonstrationsszene der Frauen in Burkas. Der Aufnahmeleiter feuert die Statistinnen an: „Erinnert euch an euer Leid! Sie haben euch nicht erlaubt, auf die Straße zu gehen! Schreit all dieses Leid aus euch heraus! Erinnert euch an die Minen!“ Die Schreie der Frauen thematisieren aber auch ganz gegenwärtige Fragen: „Wir haben Hunger! Wir brauchen Arbeit!“ Bezahlte Arbeit war aber auch ihr Auftritt in dem Film.
Die Kamera nimmt all die Anstrengungen in den Blick, die zu tätigen sind, um einen Eindruck von „Authentizität“ zu erzeugen: Die Kleider sollen zerfetzt aussehen, die Autos werden mit Schlamm verschmiert, damit eine glaubwürdige Patina des Realen entsteht. Im Hintergrund ist auch mal ein polizeigrüner VW-Bus zu sehen – ein Hinweis auf bundesdeutsche Polizei-Entwicklungshilfe.
Der danach entstandene 71-minütige „Passing the Rainbow“ von Sandra Schäfer und Elfe Brandenburger ist auch ein Film darüber, was es heißt, sich in Afghanistan als Schauspielerin zu betätigen – laienhaft und professionell: „Geschlechterrolle“ wörtlich genommen. Ein zartgrüner Vorhang, der sich sachte im Wind bewegt, ein Etagenregal mit gedrechselten Säulchen, darauf pastellige Blumenarrangements, und mittendrin ein Fernseher, in dem das afghanische Filmepos „Rabia-e Balkhi“ (1977) läuft. Es bezieht sich auf eine Dichterin und Fürstin im 10. Jahrhundert, die sich mit ihrer Liebe zu einem Leibeigenen gegen Liebes- und Klassenverhältnisse aufgelehnt hatte und dies mit dem Leben bezahlen musste; der folgende Aufstand der Leibeigenen führte zur Befreiung von der Tyrannenherrschaft. Die Zuschauerin auf dem Sofa spricht die Texte des Ausstattungsfilms auswendig mit: „Versuch nicht, mich einzuschüchtern!“
MADELEINE BERNSTORFF
„Fake or Feint“-Filmprogramm: heute um 20 Uhr im Arsenal 1