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Archiv-Artikel

Ein Herz und eine Seele

AUS BRÜSSELDANIELA WEINGÄRTNER

Ein knappes Stündchen dauerte das Gespräch zwischen EU-Kommissar Günter Verheugen und dem türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan. Dann waren die Probleme zwischen EU und Türkei schon vom Tisch. Lapidar erklärte Verheugen, der Streit um die Strafrechtsreform sei beigelegt. Auch gebe es in der Türkei keine systematische Folter mehr. Um diese Frage zu klären, hatte die EU-Kommission in den letzten Tagen nochmals Experten entsandt. Erdogan hat in Brüssel zugesagt, sich für ein reformiertes Strafrecht einzusetzen. Das türkische Parlament soll am Sonntag zu einer Sondersitzung zusammenkommen.

Im Europaparlament dürften die Abgeordneten ihren Augen und Ohren nicht getraut haben. Seit Tagen mühen sich Vertreter aller politischen Richtungen, das Für und Wider von Verhandlungen abzuwägen. Am Nachmittag wurde Erdogan dort zu Gesprächen mit den Fraktionsvorsitzenden erwartet. Gleichzeitig begann ein Türkei-Seminar der konservativen Fraktion, die intern über die Frage des Beitritts gespalten ist.

Während sich im Hotel Konrad Verheugen und Erdogan offenbar nur kurz in die Augen blickten, die Turbulenzen der vergangenen Wochen wie einen bösen Traum abschüttelten und die Sache über die Köpfe der Parlamentarier in Ankara und Brüssel hinweg klar machten, erklärte der französische UMP-Abgeordnete Jacques Toubon der Presse, warum eine „privilegierte Partnerschaft“ für die Türkei und für Europa besser wäre als die Vollmitgliedschaft: Das 1963 gegebene Beitrittsversprechen habe sich auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bezogen, so seine Position. Es gelte unverändert. Da die Union aber inzwischen zu einer politischen Gemeinschaft gereift sei, müsse mit der Türkei eine neue Form der Wirtschaftspartnerschaft gefunden werden. „Ein türkischer Beitritt würde Europa schwächen“, prophezeite Toubon. Auch könne die Türkei nur als stabilisierende Kraft im Kaukasus auftreten, wenn sie unabhängig bleibe. „Das wäre im türkischen wie im europäischen Interesse.“

Ähnlich hatte sein Fraktionskollege Elmar Brok zwei Tage zuvor argumentiert. Das Argument, via Ankara eine psychologische Brücke in die islamische Welt zu bauen, gehe ins Leere. Als ehemalige Kolonialmacht sei die Türkei in vielen arabischen Ländern verhasst: „Wenn Sie sich in Kairo als Freund der Türkei einführen, lachen die dort nur – im besten Fall.“ Cem Özdemir von den Grünen hingegen ist überzeugt, dass ein Ja zu Verhandlungen mit der Türkei „eine Stärkung der demokratischen Kräfte in allen islamischen Gesellschaften“ bedeute. Der neue grüne EP-Abgeordnete bedauert, dass die Fortschritte in seinem Herkunftsland durch den Streit um das Ehebruchgesetz verdeckt worden seien. Sieben Reformpakete seien auf den Weg gebracht, die Zivilgesellschaft enorm gestärkt, der Prozess sei „unumkehrbar“ – mit oder ohne Beitrittsperspektive.

Nach Erdogans Auftritt gestern in Brüssel ist man hier der Überzeugung, dass lediglich ein billiger dramatischer Effekt hinter seinem Vorgehen steckte. Es ging darum, der EU-Kommission einen Stolperstein hinzuwerfen, um ihn im letzten Moment effektvoll wieder aus dem Weg zu räumen. Dass Erdogan offenbar nach Belieben an den Fäden ziehen kann, wenn er die fundamentalistischen Mitglieder seiner Partei wie Springteufelchen aus der Kiste holt und wieder verschwinden lässt, hält auch Özdemir für bedenklich. „Die innerparteiliche Demokratie ist noch nicht gewährleistet“, urteilt der Abgeordnete.