: Kirche ohne Kreuz und Glocke
AUS MCLEAN/VIRGINIAMICHAEL STRECK
Es ist Sonntagmittag. Kurz vor zwölf. Tausende Menschen strömen plötzlich auf den Parkplatz, der viermal so groß ist wie der vom Flughafen Tegel. Einweiser in orangefarbenen Jacken und mit Leuchtstäben dirigieren die Abreisenden in Richtung Ausfahrt. An der Auffahrtsrampe staut sich bereits eine neue Blechschlange, die sich reibungslos in die frei gewordenen Plätze einfädelt. Der Schichtwechsel zwischen den Gottesdiensten ist perfekt organisiert.
Kommen um acht und zehn eher die Älteren, drängen sich nun die Jüngeren und Familien mit Kindern zu den Eingängen der riesigen Halle. Die Männer tragen Kakihose und Polohemd. Am Gürtel das Mobiltelefon. In der Hand die Bibel. Große Bücher mit Goldrand. Solche mit ledernem Einband. Und kleine Taschenformate. Die Frauen tragen die Kinder.
Vom doppelstöckigen Parkdeck verschwinden sie diszipliniert durch breite Eingänge in dem riesigen Gebäude aus Stahl und Beton, das wie ein Kongresszentrum aussieht. Nichts erinnert an eine Kirche. Kein Kreuz. Keine Glocken. Kein einziger Hinweis auf ein Gotteshaus. Nur die Amerika-Fahne weht an einem hohen Mast.
Hier in den ausufernden Vorstädten eine halbe Stunde westlich von Washington liegen am kilometerlangen „Leesburg Pike“ dutzende Kirchen aufgereiht. Meist sind es schlichte Holz- oder Backsteingebäude. Auf der christlichen Meile ist für jeden Geschmack etwas dabei – diverse Religionsgemeinschaften, viele amerikanische Splitterkirchen. Doch die „McLean Bible Church“ überragt sie alle an Größe. Und Einfluss. Zehntausend Gläubige pilgern allsonntäglich zu ihr. Darunter finden sich berühmte und berüchtigte republikanische Kongressabgeordnete wie der erzkonservative Senator James Imhofe aus Oklahoma, Sonderermittler Kenneth Star, der sich in die Sünden Bill Clintons verbissen hatte, und Wirtschaftsminister Donald Evans.
Sandy, eine junge, etwas blasse Frau mit schwarzem T-Shirt, steht in der Eingangshalle hinter einem Empfangstisch, wo sie Info-Blätter verteilt und Leute begrüßt. „Bist du ein Gläubiger?“, fragt sie neue Besucher und mustert sie dabei genau. Je nach Antwort empfiehlt sie nach der Messe einen Besuch im „Welcome Center“, Bibelstunden oder einen Blick in den Buchshop. Im „Auditorium“ erklingen derweil von der Bühne die ersten Takte einer Art Big Band. Die Liedzeilen werden auf acht große Videoleinwände übertragen.
Viele Menschen strecken ihre Arme mit geöffneten Händen in die Höhe. Auf den Treppenstufen zu den höheren Rängen stehen Animateure, die vorgeben, wann geklatscht werden kann. Dann plötzlich wird es dunkel. Ein Videoclip läuft. Bergsteiger kämpfen sich durch eine Eiswand und erklimmen einen Gipfel. Bibelzitate sind mit dramatischer Musik unterlegt. Eine Stimme wirbt für ein christliches Manager-Seminar, das nur 60 Dollar kostet. Das Licht geht an, der Vorhang auf und der Prediger steht am gläsernen Pult.
Der stämmige schwarze Mann im feinen Zwirn donnert seine Worte in den Saal. Dabei gestikuliert er wild. Immer wieder muss er seine Stirn mit einem Tuch vom Schweiß trocknen. Einst war Ricky Bolden Football-Spieler. Dann traf er Jesus. Seither erzählt er Anekdoten aus seinem früheren Sportlerleben, wie ihm Jesus half, gefährliche Situationen auf dem Rasen zu meistern. „Doch heute will ich Washington für Jesus umkrempeln.“
Die gleiche Botschaft erwartet den Suchenden später im „Welcome Center“. Oberhirte Lon Solomon, der sich gerade auf Werbetour durchs Land befindet, hat eine unbescheidene Videogrußadresse hinterlassen. „Ändern wir diese Stadt, ändern wir die Welt.“ Der missionarische Eifer, für europäische Geister irritierend und fremd, hat Erfolg. Vor zehn Jahren noch predigten Solomon und seine Pfarrer vor wenigen hundert Menschen. Heute gehört die „Bible Church“ zu den am schnellsten wachsenden Kirchen Amerikas. Ihr kommt jedoch eine Sonderstellung zu. Sie ist die einzige in der Nähe Washingtons. Die anderen Mega-Kirchen schießen ansonsten im „Bibelgürtel“ zwischen Tennessee und Texas aus dem Boden.
Pfarrer Denny Harris, Stellvertreter Solomons und der Mann, der die Kirchen-Geschäfte führt, glaubt, dass die Anziehungskraft darin liegt, relevant sein zu wollen. „Ja, wir missionieren, sind politisch und beziehen zu bestimmten Themen klar Position.“ Er meint damit Abtreibung oder Schwulenehe. An Harris ist nichts Pastor und alles Manager. Sein Büro ist austauschbar und funktional, religiöse Symbole fehlen.
Wer die Welt verändern will, muss hier in Washington anfangen und Politiker für Jesus gewinnen, sagt er. „Wie würde die Welt wohl aussehen, wenn Trotzki oder Mao Jesus gekannt hätten?“ In George W. Bush, dem Wiedergeborenen, sieht er so etwas wie Gottes Vollstrecker. Die strikte Trennung von Kirche und Staat ist für ihn kein notwendiger Bestandteil einer Demokratie.
Wenn er spricht, blinken bei einem säkularisierten Europäer alle Warnsignale. Doch der Kant’sche Gedanke, dass sich alles, auch Religion, der Kritik unterziehen muss, scheint bei Pfarrer Harris keinen großen Anklang zu finden. Bei ihm verschwimmen die Handlungssphären des Religiösen und Politischen, Recht und Moral verschmelzen. Da sitzt ein Mann des 21. Jahrhunderts, der einmal Rechtswissenschaft studiert hat, und sagt ohne den leisesten Zweifel, dass die Bibel unfehlbar ist und das beste Buch aller religiösen Schriften. Selbst der Papst ist toleranter.
Freundlich und lächelnd bezeichnet sich Harris selbst als Fundamentalist. „Das ist leider ein negativer Begriff geworden. Aber mein Glauben ist nun einmal fundamental und unerschütterbar.“ Er räumt ein, dass diese Haltung arrogant wirkt, intolerant und man dabei im Alltag und der Politik möglicherweise viel Porzellan zerschlägt. Aber das sei nicht zu vermeiden, wolle man relevant sein. Schließlich hinterlasse man nur so eine Spur in der Geschichte.
Um den Einflussbereich auszudehnen, verfolgen Harris und Solomon ein einfaches Konzept. Die Kirche ist offen für alle Konfessionen, solange man sich nur zu Jesus bekennt. Das macht sie auch für Einwanderer attraktiv. Ein koreanischer Familienvater erzählt, dass Freunde in seine koreanische Gemeinde nur einmal mitkommen würden und dann nie wieder. „Die alten Rituale, die Musik, alles ist zu fremd.“ Die „McBible Church“ ist dagegen gewissermaßen „Kirche light“ – ohne Traditionen, komplizierte Rituale und religiöse Zeichen. Mit wenigen Handgriffen könnte sie in ein normales Konferenz- oder Entertainment-Center verwandelt werden.
Was steril wirkt, fasziniert jedoch vor allem junge Leute als Inbegriff einer modernen Kirche. Wie Empfangsdame Sandy. Nun sitzt sie im integrierten Starbucks Cafeshop und liest im Neuen Testament. Hausaufgaben sozusagen. Denn die 28-jährige Buchhalterin geht jeden Montag zur Bibelstunde für junge Frauen. Ihre Gruppe hat insgesamt 1.000 Teilnehmer im Großraum Washington.
Die Bibel ist Sandys Leitfaden. „Was in ihr steht, ist unumstößlich.“ Für sie gibt es keinen anderen Weg, gerettet zu werden von eigenen Sünden denn durch Jesus. Was bedeutet ihr Glaube im Alltag? Zu wissen, was richtig und falsch ist. Falsch ist zum Beispiel Schwulsein und Sex vor der Ehe. Richtig der Irakkrieg, sagt sie überzeugt. „Wenn wir die Macht haben, ein Land von einem Diktator zu befreien, was ist dagegen einzuwenden?“
Der gleichen Meinung ist auch Kyle. Amerika ist dazu berufen, anderen Ländern Freiheit und Demokratie zu bringen, sagt der 23-Jährige. Braungebrannt, mit T-Shirt, kurzen gefärbten Haaren und Halskette erinnert er eher an einen kalifornischen Surfer als an einen Teilnehmer von Männer-Bibelrunden. Auch er liest in der Cafeteria im Buch der Bücher, schreibt sich Gedanken auf und wartet auf „Frontline“, das Hochamt für junge Leute.
Nachdem ihn vor vier Monaten Freunde mitgebracht hatten, kommt der studierte Software-Ingenieur jetzt jeden Sonntag. „Mit 2.000 anderen Leuten zusammen Teil dieser Bewegung zu sein, das ist wie ein Rausch.“ Im Alltag will er Freunde von Jesus überzeugen. Atheisten und andere Religionen befänden sich schließlich auf dem Holzweg. „Wir können unseren Glauben zwar nicht anderen aufzwingen, aber wir müssen ihnen sagen, dass sie verloren sind.“
Es ist später Nachmittag geworden. Hallen und Gänge füllen sich mit jungen Leuten. Die Menge erinnert an einen evangelischen Kirchentag. Nur dass der äußere Eindruck täuscht. Friedensaktivisten sind hier so selten wie Kondomautomaten auf den Toiletten. Ein Mann Anfang zwanzig mit Piercings, Tattoos und in Leder, der hierher kommt, weil die Kirche und Technik-Show „cool“ sind, gibt sich stolz als Republikaner, Verfechter konservativer Werte und Kriegsbefürworter zu erkennen.
Eine Frau steht im Foyer. Sie ist 30 Jahre, hat stechend blaue Augen, wilde blonde Haare und trägt ein bauchfreies Shirt. In der Hand hält sie eine kleine Bibel. Sie arbeitet für ein Ministerium, das sie nicht nennen will. Und über Politik hat sie auch keine Lust zu reden. Vor acht Jahren wurde sie „bekehrt“. Die Kirche ist ihr neues Zuhause geworden. Hier trifft sie Gleichgesinnte. Wie Brian, der neben ihr steht. Sie schaut ihn an, grinst und offenbart, dass Jesus im Balzverhalten keinen Unterschied macht. „Er kommt nur hierher, um Mädels anzulachen.“