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Archiv-Artikel

Leben an der Grube

Paralympics-Starter Wojtek Czyc gilt als Favorit im Weitsprung – sein Trainer ist ein alter Bekannter

ATHEN taz ■ Als Erich Drechsler vor acht Jahren in den Ruhestand ging, war er eigentlich der Meinung, dass er nicht mehr viel dazulernen kann. Als Leichtathletik-Trainer hatte er es zu höchsten Weihen gebracht. Seine ehemalige Schwiegertochter Heike, die noch immer seinen Nachnamen trägt, war 1983 und 1993 Weitsprung-Weltmeisterin, 1992 Olympiasiegerin. Selbst ihre Goldmedaille 2000 in Sydney wurde noch mit ihm in Verbindung gebracht. Die Drechslers, das waren immer Heike und Erich – die Weitspringerin und der Trainer.

Heute ist der Trainer 70 Jahre alt. Heike hat ihre Spikes an den Nagel gehängt, aber Erich ist noch da. Braun gebrannt steht er auf dem Nebenplatz des Athener Olympiastadions und hält einen Rechen in der Hand. Keiner hat nachgezählt, wie oft er schon den Sand glatt gestrichen hat für seine Athleten. Die Haare sind weiß geworden, ja. Und es sind nur die Paralympics. Aber macht das einen Unterschied?

Wojtek Czyc ist froh, dass er einen Trainer wie Drechsler hat. Der beinamputierte Weitspringer absolviert die letzten Einheiten vor dem Finale am Montag. Mit stoischer Ruhe hat er seine Prothese angeschnallt, mit unglaublicher Dynamik läuft er an. Der 24-Jährige ist Favorit. Mit der Goldmedaille würde sich der Student aus Köln einen Traum erfüllen. Und Erich Drechsler, der Coach? „Na ja“, sagt der, „ich habe schon so viel erreicht …“

Trotzdem: Erich Drechsler hat einiges dazugelernt in den vergangenen Jahren. Lange konnte er es nicht fassen, dass er vor acht Jahren, damals 62-jährig, vom Deutschen Leichtathletik-Verband aufs Altenteil abgeschoben wurde. Aber es waren schlechte Zeiten damals für ehemalige DDR-Trainer, von denen niemand so recht wusste, wie tief sie im politischen und im Dopingsumpf steckten.

Als die Behindertensportler auf ihn zukamen, hörte Drechsler auf zu jammern. Es war eigentlich ein Zufall. Und Drechsler sagt: „Es ist mehr ein Hobby.“ Über die Heike in Karlsruhe wurde der Kontakt hergestellt. Dann begann Ralf Otto systematisch, um die Dienste der altgedienten, aber ausrangierten Übungsleiter zu werben. Der Leichtathletik-Cheftrainer des Deutschen Behindertensportverbandes sagt: „Da musste ich mir einiges anhören.“ Erst Drechsler, dann Karl Hellmann, der die Speerwurf-Weltrekordlerin Petra Felke trainiert hatte. Fahrgeld kriegen sie, Spesen. Und einen Vertrag haben sie – wegen der Versicherung. Heute ist Otto überzeugt, dass es der richtige Weg war: „Wir haben einfach die besseren Trainer als die anderen Nationen.“ Was die Leichtathletik-Bilanz dieser Paralympics beweisen soll.

Erich Drechsler hat mehr gelernt. Über menschliche Schicksale wie das von Wojtek Czyc. Der stand vor drei Jahren vor einer Karriere als Fußballprofi. Beim letzten Spiel für den Verbandsligisten Grünstadt – der Vertrag mit dem Regionalligisten Fortuna Köln war so gut wie perfekt – grätschte ihm ein Gegenspieler ins Knie. Und statt schnell in eine Spezialklinik transportiert zu werden, fuhr er stundenlang im Rettungswagen von Krankenhaus zu Krankenhaus. Dass ihm schließlich das Bein abgenommen werden musste, war für den damals 21-Jährigen der Super-GAU. Erst der Weg zur Leichtathletik brachte Wojtek Czyc den Lebensmut zurück. „Er kam an und wollte bei mir trainieren“, sagt Erich Drechsler. „Ich lebe für den Sport“, sagt Czyc. Immer noch. Trotz Behinderung.

Und offensichtlich haben sich da zwei gefunden, deren Verständnis von Leistungssport sich ziemlich genau deckt. „Ich trainiere professionell, habe Sponsoren und werde von der Sporthochschule Köln und meinem Verein TV Wattenscheid optimal unterstützt“, sagt Wojtek Czyc, der 30 Stunden in der Woche trainiert. Mit einem Paralympics-Sieg könnte er einer von wenigen Behindertensportlern werden, die mit ihrem Sport Geld verdienen. „Er ist ein unglaublich willensstarker Mensch“, sagt Erich Drechsler, „ich mag solche extremen Typen.“ Dass er sich auf seine alten Tage auf ungewöhnliche Techniken und Bewegungsabläufe einstellen musste, weckte seinen Trainer-Ehrgeiz: „Das geschulte Auge musste sich auf neue Dinge einstellen, wir haben viel überlegt und probiert.“

Dass das Ziel nun der Paralympics-Sieg ist, wen wundert’s bei einem Weitsprung-Papst wie Erich Drechsler, den es mit „Genugtuung“ erfüllen würde, wenn Czyc am Montag vom gleichen Balken aus Gold holen würde wie der Olympiasieger. Mehr nicht? „Ich sage immer: Wenn du bei den Paralympics gewinnst, wirst du geehrt – wenn du verlierst, erfährt es niemand“, sagt Drechsler. Nach den Spielen, sagt er auch noch, „werde ich mich zurückziehen“. Der Grube endlich den Rücken kehren, nie wieder Glattstrich im Sand. Sein Chef Ralf Otto hofft, dass der bei Jena wohnende Trainersenior noch ein paar Jahre dranhängt. Kollege Hellmann ist ja auch schon 73. Aber die Hoffnung ist nicht sehr groß. Weitsprung – egal, ob olympisch oder paralympisch – ohne den Namen Drechsler? Irgendwie gar nicht richtig vorstellbar. JÜRGEN ROOS