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Archiv-Artikel

Kurzes Experiment

Vor 40 Jahren schien es, als könne es in der DDR ein sozialistisches Nachrichtenmagazin geben – nach Vorbild des Hamburger „Spiegel“

VON GUNNAR LEUE

Vier Jahrzehnte hat es gedauert, bis sich in der Bundesrepublik ein Verlag ernsthaft entschloss, dem Spiegel seinen Status als einziges deutsches Nachrichtenmagazin streitig zu machen. 1993 kam Focus auf den Markt.

Was bis heute weithin unbekannt ist: Auch in der DDR gab es – dreißig Jahre zuvor – den Versuch, ein Nachrichtenmagazin nach Spiegel-Vorbild zu konzipieren. Maßgeblich daran beteiligt war ein mittlerweile 75-jähriger Schweizer, der heute in einem kleinen Dorf in der ostdeutschen Uckermark lebt.

Jean Villain heißt der Mann, der an einem der spannendsten Kapitel ostdeutscher Pressegeschichte mitwirkte. Das geheime DDR-Medienexperiment begann 1963. Reformfreudige Funktionäre im SED-Zentralkomitee wollten damals – ermutigt vom poststalinistischen Tauwetter unter Chruschtschow – den öffentlichen Meinungsstreit fördern und realistisch über die Entwicklung in der DDR und in Westdeutschland berichten.

Zunächst sollte die Illustrierte NBI zu einer „modernen sozialistischen Lese-Illustrierten nach Art des Stern umgestaltet werden“, wie sich Jean Villain erinnert. Der Schweizer – ein linker Journalist und Schriftsteller – war 1961 nach Ostberlin übergesiedelt und „begierig, auch diese Seite der Welt kennen zu lernen, die ja viele damals als eine Alternative zum Kapitalismus sahen“, wie er heute sagt. Zwei Jahre plante und diskutierte eine Auswahl junger Reporter in seiner damaligen Berliner Wohnung. Als die NBI-Auflage auf eine Million gesteigert werden konnte (mit Titelgeschichten wie „Ist Völkerfreundschaft volkseigen?“), gab das Politbüro 1963 den Auftrag zur Entwicklung eines sozialistischen Nachrichtenmagazins. Vorbild: der Hamburger Spiegel.

Profil, so der Name, sollte eine unterhaltsamere Berichterstattung über gesellschaftliche Probleme in der DDR als auch über weltpolitische Ereignisse bieten. Die Nullnummer erschien im Herbst 1964 und erregte in jeder Hinsicht Aufsehen. 1.800 Exemplare der Nullnummer (Titelgeschichte: das Fremdsprachendefizit in der DDR) gingen an diverse Stellen zur Begutachtung. Während Willi Stoph sogar einen Glückwunschbrief schickte, wie Jean Villain erzählt, sollen führende Genossen wie Erich Honecker und Günter Mittag über die neue Offenheit überhaupt nicht begeistert gewesen sein.

Wie der Anfang war auch das Ende des Projekts durch Ereignisse in Moskau bedingt: Nach dem Sturz Chruschtschows im Oktober 1964 gewannen auch in der DDR die Hardliner bald die Oberhand. „Der Traum von einem analytischen, die gesellschaftlichen Realitäten und deren Widersprüche benennenden DDR-Journalismus war ausgeträumt“, so Villain. Er konnte seitdem kaum noch in den DDR-Medien publizieren, schrieb deshalb vor allem Bücher.

Von den jungen Reportern bekamen insbesondere Klaus Schlesinger und Landolf Scherzer den Unmut der Funktionäre zu spüren. Schlesinger bot man einen Betriebszeitungsposten an (was er ablehnte), Scherzer wurde exmatrikuliert und in die Provinz verbannt. Beide reüssierten später als Schriftsteller. Der 2001 gestorbene Schlesinger gehörte nach seiner Übersiedlung nach Westberlin zu den ersten Mitarbeitern der taz.